Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman 'Stiller' von Max Frisch
Moskauer Staatliche
Linquistische Universitaet
Lehrstuhl
fuer Lexikologie
und Stilistik
der deutschen Sprache
Diplomarbeit
Das
Zusammenspiel der Realitaeten als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im
Roman von Max Frisch "Stiller"
eingerichtet
von Irina Sizikova
Moskau
2003
Inhaltsverzeichnis
Einleitung………………………………………………………………….3
Kapitel I. Der Roman "Stiller"
im Schaffen von Max Frisch. Problematik und Strukturelle Besonderheiten des
Romans……………………………………………6
1. Max Frisch, Biographie, kurzer
Ueberblick……………………………………6
2. Der Roman "Stiller im Schaffen
von Max Frisch. Identitaetsproblematik in "Stiller"? "Homo
Faber", "Mein Name sei Gantenbein"……………………..8
3. Strukturelle Besonerheiten des Romans
"Stiller" und die Haltung des Erzaehlers im Roman…………………………………………………………...11
3.1 Aufbau des Romans
……………………………………………………………..13
3.2 Form und Funktion des
Tagebuchs………………………………………………14
3.3 Erzaehlsituation und
Erzaehlhaltung……………………………………………..16
Schlussfolgerung…………………………………………………………………….20
Kapitel II Zusammenspiel der
Realitaeten………………………………………..22
1. Der Begriff der textwirklichkeit,
Fiktionalitaet und Virtualitaet im literarischen
Text………………………………………………………………..22
2. Mehrschichtigkeit der
Textwirklichkeit in "Stiller"…………………………27
2.1 Erzaehlte
Geschichten……………………………………………………………29
2.2 Parabolische
Geschichten………………………………………………………...32
2.3 Traeume…………………………………………………………………………..36
3. Der amerikanische und der
schweizerische Text im Roman. Versuch einer vergleichenden
Analyse…………………………………………………………44
3.1 Die raeumliche
Perspektive………………………………………………………46
3.2 Die zeitliche
Perspektive…………………………………………………………48
3.3 Stilebene………………………………………………………………………….52
Schlussfolgerung………………………………………………………58
Literaturverzeichnis…………………………………………………..62
Einleitung
Das Anliegen der
vorliegenden Forschungsarbeit besteht darin, das Phaenomen des Zusammenspiels
der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu erlaeutern. Der Roman
zeichnet sich durch komplizierten Aufbau, Fehlen der einheitlichen
Erzaehlperspektive aus, was die Rezeption des Werkes fuer den Leser zu keiner einfachen
Aufgabe macht.
Das veranlasste uns die
Textwirklichkeit zu erforschen und uns mit dem Zusammenspiel verschiedener
Textschichten auseinanderzusetzen.
Die Textwirklichkeit des
Romas stellt in sich keine Ganzheit dar. Sie besteht aus vielen 'Kaestchen',
die in die Hauptkonstruktion eingebaut sind. Viele Sprachwissenschaftler
setzten sich mit diesem Textphaenomen auseinander (Padučeva 1996; Lotman
1970; 1981; Hamburger 1977; 1979; Rudnev 1996 und andere).
Es handelt sich dabei um
autonome Textteile wie Traum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in der Ezaehlung
und aehnliche Erscheinungen, die in das Textganze eingebettet sind. Im Rahmen
der vorliegenden Forschung sind diese Textfragmente in der Hinsicht von
Interesse, dass ihre Wechselbeziehungen und Gegenueberstellung zum wesentlichen
Element des Zusammenspieles der Realitaeten wird.
Das Objekt der
Forschung ist
der Roman von Max Frisch "Stiller". Als Gegenstand der
Forschung treten Mittel und Instrumente auf, die zu Signalen der
Umschaltung und des Spieles zwischen Fakt und Fiktion werden.
Das sind unter anderem:
ä Traeume
ä Die vom Protagonisten erzaehlten
Geschichten
ä Die zeitliche und raeumliche
Perspektive im Roman
ä Sprache und Stil
Die vorliegende Arbeit
setzt sich dementsprechend zum Ziel moegliche Wechselbeziehungen
zwischen Realitaeten im Rahmen eines fiktionalen Textes am Beispiel des Romans
von Max Frisch "Stiller" zu erlaeutern.
Damit dieses Ziel
erreicht wird, sind folgende Aufgaben im Rahmen dieser Forschung
zu loesen:
ä Architektonik, Erzaehlhaltung,
Mehrschichtigkeit des Textganzen, somit Aufbau und Tagebuchform zu beschreiben
ä Den Einfluss dieser Faktoren auf den
Effekt des Zusammenspiels der Textrealitaeten zu betrachten
äEinige Mechanismen des
Zusammenspieles der Realitaeten zu erforschen und konkrete Mittel auszusondern,
die vom Autor eingesetzt sind, um diesen Effekt zu schaffen.
Das Ziel und Aufgaben
haben das Forschungsverfahren bestimmt. Das ist:
äDie Kontexteanalyse
äAnalyse der mikro- und makrostilistischen
Kategorien
äVergleichende Analyse der
Textfragmente
Die Struktur der Arbeit ist von gesetzten Zielen
und Aufgaben gepraegt. Die vorliegende Diplomarbeit besteht aus einer
Einleitung, zwei Kapiteln, einer Zusammenfassung und einer Bibliographie.
Die Einleitung ist vorwiegend dem Forschungsthema,
den gesetzten Zielen und Aufgaben gewidmet.
Das erste Kapitel
handelt von der Position, die der Roman im Schaffen von Max Frisch einnimmt,
und vom Thema, das der Roman beinhaltet. Ausserdem wird in diesem Kapitel der
Begriff "Offenheit" des literarischen Textes erlaeutert und es wird
bewiesen, dass diese Erscheinung nachstehend den Aufbau und die Form des Romans
praegt. Von Bedeutung ist in diesem Teil auch die Erklaerung des Begriffs
"Erzaehlsituation".
Das zweite Kapitel ist dem Phaenomen
"Zusammenspiel der Realitaeten" gewidmet.
Im Laufe der Forschung
wird aus zwei Sichten gezeigt, welche Mittel und Instrumente zum Effekt des
Zusammenspieles beibringen.
In diesem Kapitel werden
solche Erscheinung wie "Text im Text" und "virtuelle
Textwirklichkeit" untersucht.
Das Miteinbeziehen von
der freudschen Theorie der Traumdeutung und Belletristik setzt sich zum Ziel in
diesem Teil der Forschung die Analyse durchsichtiger zu machen.
Im Rahmen des
Forschungsthemas werden zwei im Roman dargestellte "Welten"
gegenuebergestellt und es wird bewiesen, wie die Opposition 'die Schweiz-
Amerika' zum Instrument des Zusammenspieles wird.
Dabei werden zeitliche
und raeumliche Perspektive, Sprache und Stil der Beschreibung dieser zwei
Laender miteinander verglichen und einander gegenuebergestellt.
In der Zusammenfassung
werden Schlussfolgerungen gezogen.
I.
Der
Roman "Stiller" im Schaffen von Max Frisch. Problematik und
strukturelleBesonderheiten des Romans
1. Max Frisch, Biographie. Kurzer Ueberblick
Max Frisch wurde
am 15. Mai 1911 in Zuerich als Sohn eines Architekten geboren. Auf Draengen
seines Vaters hin, begann er 1931 nach dem Abitur in seiner Heimatstadt ein
Studium der Germanistik. Aus finanziellen Gruenden mußte er zwei Jahre
spaeter, nach dem Tod seines Vaters das Studium abbrechen und arbeitete als
freier Journalist. Im Rahmen dieser Taetigkeit fuehrten ihn Reisen in die
Tschechoslowakei, nach Polen, Frankreich, Bosnien, Griechenland und
schließlich bis ans Schwarze Meer und nach Konstantinopel. 1934 entsteht
sein erster, von der Balkanreise inspirierter Roman "Juerg Reinhart. Eine sommerliche
Schicksalsfahrt". Nach
seinen ersten schriftstellerischen Versuchen geraet Frisch in Selbstzweifel, er entschliesst sich mit
Schreiben aufzuhoeren und verbrennt alle bis dahin entstandenen Manuskripte.
1936 beginnt Frisch, nachdem
er auf Draengen seiner Verlobten den Journalismus aufgegeben hatte, ein
Architekturstudium. Erst 1939 faengt der nunmehrige Frisch wieder an zu
schreiben. 1940
Veroeffentlichung von
"Blaetter aus dem Brotsack.
Tagebuch eines Kanoniers" in dem er seine Erfahrungen im Militaerdienst
waehrend des Kriegsbeginns verarbeitet. 1942 erhaelt er das Architektendiplom (baut u.a. das
Letzigraben Schwimmbad). Er heiratet nun Constanze von Meyenburg und eroeffnet
mit ihr zusammen ein Architektenbuero in Zuerich. Die Ehe mit Constanze wird 1959 nach laengerer Trennung wieder
geschieden.
Fortan arbeitet Frisch im Doppelberuf als Architekt
und Schriftsteller. In
der Zeitperiode von 1946 bis 1951 verfasst Frisch Dramen, die die aktuelle
Nachkriegszeit teils thematisieren, teils verfremden: "Nun singen sie
wieder"(1946), "Die
Chinesische Mauer"
(1947), "Graf Oedland"
(1951).
Frisch unternimmt
weiter inspirierende Reisen (z.B.Prag, Berlin, spaeter auch die USA, Japan), trifft unter anderem
Berthold Brecht, der ihn sehr beeinflußte und Peter Suhrkamp (Verlag
eroeffnete mit Frischs Werk "Tagebuch
1946-1949"). Der endgueltige
literarische Durchbruch gelingt ihm 1954 mit "Stiller". Das Buch wurde in etliche
Fremdsprachen uebersetzt und brachte dem Autor den "Wilhelm- Raabe-
Preis" der Stadt Braunschweig 1955, den "Schiller-Preis" der
Schweizer Schillerstiftung 1955 sowie den "Welti- Preis fuer das Drama"
der Stadt Bern 1956.
Der nun unabhaengig gewordene Frisch
wechselt haeufig den Wohnsitz, z.B. Berlin, New York, Tessin, kommt aber immer
wieder zurueck nach Zuerich. Mit der Urauffuehrung des Dramas "Herr Biedermann und die
Brandstifter" im Zuericher Schauspielhaus erringt Frisch seinen ersten
Buehnenerfolg und wird kurz darauf mit dem Georg-Buechner-Preis ausgezeichnet. In den 60er Jahren gewinnt Frisch wieder mehr
Popularitaet (nach der Entstehung seiner bedeutensten Werke), hauptsaechlich
durch Fernsehauftritte, zahlreiche Literaturpreise und seinem ersten
großen internationalen Buehnenerfolg "Andorra". Das Stueck behandelt das Thema
Rassismus unter der Problematik des Gebots "Du sollst Dir kein Bildnis
machen".
In den 70ern
engagiert sich Frisch nun politisch, z.B. als Redner auf einem Parteitag von der SPD, reist als Begleiter der Delegation des
damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt nach China, nimmt mit F. Duerrenmatt am Friedenskongress teil. Gegenlaeufig dazu findet er
schriftstellerisch nicht mehr so großen Anklang. Er stirbt im Alter von
80 Jahren am 5.April 1991 in Zuerich, wo er auch geboren ist. Frisch erhielt
ungewoehnlich viele Preise z.B. Friedenspreis des deutschen Buchhandels,
Schiller Preis von Baden Wuertenberg, Preis der jungen Generation fuer "Andorra" und
andere mehr.
2. Der Roman
"Stiller" im Schaffen von Max Frisch. Identitaetsproblematik in
"Stiller", "Homo faber", "Mein Name sei
Gantenbein"
Im zweiten der
namhaften Romane, "Homo Faber" (1957), geht Frisch von
entgegengesetzter Position ans Werk. Walter Faber, Techniker und Ingenieur,
moechte an seinem technisierten Weltbild, in dem Schicksal und Gefuehle keinen
Raum finden, festhalten. Aber er verstrickt sich immer mehr in
unwahrscheinliche Zufaelle und irrationale Liebesempfindungen. Auf der Suche
nach Erlebnissen, die ihn in seiner Position staerken koennten (glaubt selbst
nicht mehr an Rollenhaftigkeit), holt ihn schließlich seine eigene
Vergangenheit ein: Auf den Spuren seiner Geliebten und eigenen Tochter, Sabeth,
begegnet er der Welt, die er verlachte und kehrt wie Stiller zum Ursprung
zurueck: auch er ist am Ende ein Moerder, auch er allein. Bereits auf den
ersten Seiten wird angesprochen: "Ich glaube nicht an Fuegung und Schicksal. Ich bin Techniker
und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich weigere mich Angst zu
haben."
(Faber spielt die Rolle des Technikers konsequent aus).
In "Mein
Name sei Gantenbein" (1964) steht die Verwandlung des Lebens in
Geschichten im Mittelpunkt. Zu Beginn des Romans montiert der Ich-Erzaehler die
Figur aus dem Koerper eines Mannes aus Paris und dem Kopf eines Amerikaners
zusammen, sie erhaelt den Namen Gantenbein. Mit der immer wiederkehrenden
Formel "Ich stelle mir vor" (sowie auch Stiller mit "Ich erzaehle ihm eine
Geschichte") probiert Gantenbein nun unablaessig Geschichten wie Kleider aus, wobei
immer wieder nur eine vorgestellte Welt zugelassen wird. Der Titelfigur bleibt
kaum mehr eigene Individualitaet, deshalb bleibt ihr nur das Spiel mit Existenzen, dem Ausprobieren seiner
Selbst.
"Stiller"
entstand im Jahre 1953 und wurde ein Jahr spaeter veroeffentlicht. Als der
Roman erschien, hatte Max Frisch vor allem als Theaterautor einen Namen. In
kurzer Zeit erreichte der Roman als erstes Buch des Suhrkamp-Verlages eine
Millionenauflage.
In einem Gespraech mit
Horst Bienek sagte Frisch zur Entstehung:
" Ich war ein Jahr in Amerika, und
da ich ein Stipendium hatte, meinte ich fleissig sein zu muessen. Ich schrieb
sechshundert Seiten, die misslangen. Eines Tages, zuhause, tippte ich wie oefters,
wenn ich mich langweilte und mich unterhalten muss, ein paar Seiten. Ziellos,
frei von dem beklemmenden Gefuehl, einen Einfall zu haben. Nichts geht leichter
zugrunde, als ein Einfall, der sich selbst erkennt! Das blieben die ersten
Seiten vom "Stiller", unveraendert; das Material, das ich zum
Weitertippen brauchte, stahl ich aus den sechshundert misslungenen Seiten
ruecksichtslos, so dass das Buch nach dreiviertel Jahren fertig war. " (Bienek
1969:21)
"Ich bin nicht Stiller" lautet die unerhoerte Aeußerung
des Helden mit der der Roman einsetzt. Um die
Schatten der eigenen Nichtigkeit loszuwerden, unternimmt er den Versuch nach
langer Abwesenheit unerkannt und verwandelt in die Heimat zurueckzukehren, doch
dies schlaegt fehl. Spaeter kommt der Symbolgehalt des Namens Stiller zum
Ausdruck. Auf einem Landgut fristet Stiller sein Dasein: verstummt,
zurueckgezogen, allein.
Der
Roman ist in zwei Hauptteile untergegliedert, von denen der erste Teil die
"Aufzeichnungen im Gefaengnis" und die zweite Teil das "Schlusswort
des Staatsanwalts" beinhaltet.
Die
Handlung findet im architektonischen Aufbau des Romans ihre Entsprechung. Die
zwei Handlungsstraenge ('White-und Stillerhandlung') fuehren am Ende zusammen,
denn die Doppelidentitaet Stiller/ White wird zu einer Einheit. Noch weigert
sich White Stiller zu sein:
"[…];
abermals vergleicht er Zahn um Zahn, wobei sich zeigt, dass Stiller, der
verschollene Kunde seines verstrorbenen Onkels, beispielsweise ueber einen
tadellosen Achter-oben-rechts verfuegt haben muss; bei mir ist es eine
Luecke."
(Frisch 1992: 318)
Dann
spricht er jedoch das erste Mal von Stiller in der Ich- Form und gibt
schliesslich zu, Stiller zu sein.
"Das
Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (fuer sie) identisch mit
dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen verschollenen
Anatol Ludwig Stiller[…]" (Frisch 1992: 381)
"Wielfried
Stiller, mein Bruder, habe sich bereits erklaert, den Betrag von Franken 9
361. 05 zu uebernehmen." (Frisch 1992: 383)
Max Frisch sagte so ueber sich selbst: Er sei ein
defensiver, ein reagierender Schriftsteller. Er erfindet nicht Geschichten, um
die Welt zu veraendern, sondern stellt die Welt dar, wie er sie erfahren hat,
ohne den moralischen Anspruch zu erheben, Loesungen und Vorschlaege zum Bessermachen
aufzuzeigen. Im Grunde sei er ein hilfloser Schriftsteller, der schreibt um
zu bestehen, nicht um zu belehren und waere vielleicht am gluecklichsten,
wuerde ihm ein Aufweichen seiner Problemwelt gelingen. Aus seiner Haltung als Schriftsteller
resultiert auch die Erzaehlhaltung in seinen Romanen.
.
3.
Strukturelle Besonderheiten des Romans "Stiller" und die Haltung des
Erzaehlers im Roman
Literatur
entsteht immer in einer "Partnerbeziehung" zwischen Autor und Leser,
weshalb der jeweilige Text in jedem Leser neu entstehen soll.
Frisch gibt keine fertigen Antworten und macht deshalb auf das
Problem des Offensichtlichen aufmerksam: "...alles sagen bedeutet ein
Entfernen". Das Offene in der Reproduzierbarkeit beim Konsumieren
eines Textes muß gewaehrleistet bleiben, sonst bleibt die Gefahr,
daß man das "Geheimnis zerschlaegt". Die
schriftstellerische Form sollte deshalb eine "stofflose Oberflaeche"
bleiben, die es letztlich nur fuer den Geist geben kann.
In seinem Aufsatz
"Zwischen Autor und Text" betont Umberto Eco unter anderem, dass der Autor zwar der Urheber
des Textes ist, aber der Text ist nach
seiner Entstehung autonom, so dass es Unterschiede zwischen der Absicht des Autors und der Textintention geben
kann. Ueber sich selbst
als Autor sagt Eco: "Das Geschriebene hat sich von mir abgeloest und fuehrt ein
Eigenleben." (Eco 1992: 91). Mit dieser
Behauptung verweisst der Wissenschaftler auf den Aspekt der Offenheit, die das
literarische Werk hinsichtlich der Moeglichkeiten der Entwicklung seiner
Handlung aufweisst.
Das trifft auch die
Autorenposition von Max Frisch. Ein Buch ist fuer ihn nur dann lesenswert, wenn es ausreichend Platz fuer den Reichtum der eigenen
Gedanken laeßt. Dieser Gedanke ist verknuepft mit Frischs Abneigung gegen
die vollendeten Formen in der Literatur bzw. mit seinem eigenen Weg der
Skizzen, Tagebuecher, Berichte. In einer skizzenhaften, unvollendeten Form
eines literarischen Textes ist die Gefahr, daß der Autor dem Leser die
eigene Reproduktion durch allzu offensichtliche Vollendung vorenthaelt, und ihm
dadurch sein eigenes Bildnis aufzwingt, am geringsten. Die Skizze soll nach
Frisch nur die Richtung aufzeigen, nicht aber das Ende.
Die von Frisch im
"Stiller" gewaehlte Form des Erzaehlens bewirkt, dass der Leser einen
sehr eingeschraenkten Blickwinkel hat. Daher muss er sich automatisch mehr
Gedanken machen, um von der ersten Seite des Buches an den unbekannten Faden zu
spinnen und Verbindungen zwischen den Erlebnissen Stillers zu knuepfen. Die
knappe Information, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt
Leerstellen, die er mit eigenen Assoziationen, Theorien und Vermutungen fuellt,
welche jedoch auch zerstoert werden und zu neuen Ueberlegungen veranlassen.
Durch die gewaehlte Romanform wird der Leser aktiv, er muss sich permanent mit
dem wechselhaften Erzaehlvorgang auseinandersetzen. Die multiperspektivische
Darstellung der Personen und Charaktere fuehrt zu vielseitigen Moeglichkeiten
der Interpretation. Der Leser muss sich sein eigenes Bild machen, in dem er sich
kritisch und distanziert mit dem Erzaehler und dessen Eigenarten
auseinandersetzt.
Die Offenheit der
Struktur des Romans macht den modernen Roman, so wie ihn Max Frisch entstehen
laesst, ueberhaupt moeglich. Das Losgeloestsein von einer konventionellen
Romanform laesst den Leser unvoreingenommen dem Werk entgegentreten und in eine
neuartige Moeglichkeit des Rezeptionsvorgangs eintauchen.
Gerade durch diese
Einstellung des Autors zu seinen Werken sind in bedeutendem Ausmass einige
Besonderheiten der Architektonik des Romans zu erklaeren, solche wie
Erzaehlhaltung, Aufbau und Tagebuchform, Mehrschichtigkeit der
Textwirklichkeit.
3.1 Aufbau des Romans
Die Form dieses Romans, seine Struktur und seine
Erzaehlperspektive sind haeufig bewundert worden, so von Friedrich Duerrenmatt in seinem "Fragment einer
Kritik" und von Walter Jens. Eine genaue Untersuchung hat
Karlheinz Braun vorgenommen.
Ich möchte zunaechst den ausseren Aufbau des
Romans betrachten. Das Buch besteht aus zwei ungleichen Teilen, deren erster,
weitaus umfangreicherer, Stillers Aufzeichnungen im Gefangnis umfasst,
waehrend der zweite das Nachwort des Staatsanwalts enthaelt. Die
Aufzeichnungen im Gefangnis sind wiederum in sieben Hefte gegliedert, deren
Umfang im Durchschnitt etwa dem Nachwort des Staatsanwalts entspricht.
Die sieben Hefte des ersten Teils scheinen auf
den ersten Blick mit den verschiedensten Elementen gefuellt zu sein: Lange
Rueckblenden stehen neben Gegenwartserlebnissen im Gefaengnis und an den
Kautionsnachmittagen, die Knobel erzaehlten Abenteuer neben den parabolischen
Geschichten, Gespraeche mit Besuchern, Verteidiger und Staatsanwalt neben
Traeumen und Reflexionen des Tagebuchschreibers. Eine genauere Analyse zeigt
aber, wie kunstvoll diese scheinbar zufaellig nebeneinander stehenden Teile
zusammengefuegt, neben- und gegeneinander montiert sind, so dass sie sich
gegenseitig ergaenzen und spiegeln.
Sie folgen aufeinander nach folgendem Prinzip:
Die in Ichform gehaltenen Erlebnisse des Haeftlings White wechseln alternierend
mit dem, was er nach Erzaehlungen anderer (Julikas, Rolfs und Sibylles) zu
protokollieren vorgibt. So fuellt die Darstellung der Ehe Stillers und Julikas
das zweite umfangreichste Heft der Aufzeichnungen, die Ehe zwischen Rolf und
Sibylle, in der Stiller ja als Sibylles Liebhaber aufgetaucht ist, das vierte,
die Liebesgeschichte zwischen Sibylle und Stiller das sechste Heft.
Diese drei Hefte sind also fast ausschliesslich
der Vergangenheit gewidmet, sie enthalten die Stiller-Handlung. Hefte 1,3 und 5
dagegen geben die Erlebnisse und Gedanken Whites im Gefangnis und in Amerika
wieder; diese Hefte stellen die White-Handlung dar. Die Identitaetsspaltung
zwischen White und Stiller findet in dieser Struktur ihre genaue Entsprechung.
Eine Sonderstellung nimmt das siebente Heft ein:
Der Tagebuchschreiber weigert sich zwar noch immer Stiller zu sein, berichtet
aber andererseits zum ersten Male von Stillers Erlebnissen in der Ichform.
(vgl. Frisch 1992: 334) Am Ende des siebenten Buches sind mit dem Urteilsspruch
White und Stiller identisch geworden, beide Handlungsstraenge sind ineinander
geflossen. Es ist also auch formal konsequent, dass hier die Tagebuchform
aufhoert und ein neuer Erzaehler zu Worte kommt.
3.2 Form und Funktion des Tagebuchs
Max Frisch bedient sich der Tagebuchform. Diese
Form findet sich haeufig bei Frisch, angefangen von den "Blaettern aus dem
Brotsack" bis hin zu
"Montauk". Die
beiden "Tagebuecher 1946-1949
und 1966-1971" gehoeren zu seinem schriftstellerischen Werk nicht
weniger als seine Romane, doch ist die Art und Funktion dieser Form nicht
ueberall die gleiche.
Auf die Besonderheit und Funktion der
Tagebuchform im Roman "Stiller" moechte ich eingehen.
Vom Tagebuch kann man, genau genommen, nur in den
Heften mit ungerader Numerierung sprechen. Dort sind Erlebnisse und Gedanken
des Untersuchungshaeftlings festgehalten, er schreibt in der ersten Person und
meist in der Gegenwart. Die eingeflochtenen Geschichten und die Knobel und dem
Verteidiger erzaehlten Amerika-Erlebnisse ueberschreiten eigentlich schon den
Charakter des Tagebuchs; sie enthalten Rueckwendungen, die dazu bestimmt sind,
fuer Mr. White eine Vergangenheit aufzuzeigen. Das Ich, das hier von sich
spricht, ist nur eine Fiktion; nur die in der dritten Person gehaltenen Protokolle
beschaeftigen sich mit dem 'eigentlichen' Ich, dem Titelhelden des Buches.
Die Form des Tagebuchs ist also hier, wie
Duerrenmatt festgestellt hat, "die
eines fingierten Tagebuchs einer fingierten Personlichkeit, die damit die
Behauptung aufrechterhalten will, sie sei nicht eine andere"
(Duerrenmatt 1971: 11).
Das trifft allerdings nur auf die ersten Hefte
zu. Im Schreiben veraendert sich der Tagebuchschreiber, er setzt sich mit der
Rolle auseinander, die er einst gespielt hat und die ihm seine Umgebung wieder
aufdraengen will. Kurz bevor er in Ichform von Stillers Vergangenheit schreibt,
definiert er die Funktion des Schreibers fuer sich selbst folgendermassen:
"Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu
spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber
in der unbewussten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt
meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefuehl, man gehe aus dem
Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es; man kann
sich nicht niederschreiben, man kann sich nur haeuten" (Frisch 1992: 330).
Erst der Prozess der Selbstbesinnung durch das
Tagebuch macht Stiller reif fuer seine 'neue Haut', fuer die erste Stufe der
Selbstannahme. Aehnlich definiert Frisch
im "Tagebuch 1945-1949"
die Funktion des Tagebuchs fuer den Schreibenden:
"Indem
man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem
Denken, das bestenfalls fuer den Augenblick und fuer den Standort stimmt, da es
sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, dass man uebermorgen, wenn
man das Gegenteil denkt, klueger sei. Man ist, was man ist. Man haelt die Feder
hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir
es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heisst: sich
selber lesen" (Frisch 1950: 22).
3.3 Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
Die besondere Art und Form des Tagebuchs im
"Stiller" laesst
sich erst ganz verstehen, wenn die Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
genauer untersucht werden. Die Erzaehlsituation ist bestimmt durch Stillers
Aufenthalt im Gefaengnis.Die Isolation im Untersuchungsgefaengnis zwingt
Stiller zum Schreiben, andererseits ist es aber die Konfrontation mit der
Ehefrau, Feinden, dem Verteitiger und Staatsanwalt, die auch fuer Wahrheitsermittlung
notwendig ist. Diese Situation ist besonders geeignet fuer die dem Ich-Roman
eigene Gewissenserforschung
(vgl. Stanzel 1964: 31), fuer die Darstellung des
Identitaetsproblems.
Nach Stanzels Romantheorie ist "Stiller" am ehesten
der Kategorie der Ich- Erzaehlhaltung zuzuordnen. Bei dieser Erzaehlsituation dominiert das berichtende
Erzaehlen durch eine Erzaehlerfigur und die Innensicht auf das
Figurenbewusstsein. Unter der Kategorie "Person" ist diese
Erzaehlsituation immer mit einem Erzaehler in der Ich-Form verbunden. Da aber
auch ein auktorialer Erzaehler durchaus "Ich" sagen kann, muss eine
Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-Erzaehlsituation bezeichnet die erste
Person Singular sowohl den Erzaehler als auch eine Handlungsfigur, der
Erzaehler und die Figur gehoeren also dem selben Seinsbereich an.
Die Ich-Erzaehlsituation vereint mehrere, scheinbar widerspruechliche
Aspekte: zum einen scheint die
"epische Distanz" vollstaendig aufgehoben zu sein, steht der
Erzaehler doch als ein Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist
dieselbe Distanz geradezu konstituierend fuer ihn, da er doch nur erzaehlen
kann, was zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzaehler
eine "gespaltene Persoenlichkeit", deren eine Seite als
"erlebendes Ich", die andere als "erzaehlendes Ich"
bezeichnet wird. Diese Aufteilung erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr
authentisch und unmittelbar ueber sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist
diese Moeglichkeit zur ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld
- eben nur das seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von
aussen zu beschreiben. Eine gewisse Naehe zur personalen Erzaehlsituation liegt
hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzaehlt er seine Geschichte -
haeufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus - aus einem mehr oder
weniger grossen zeitlichen Abstand. Das befaehigt ihn, kommentierend und
wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben zurueckzublicken, was seine
Perspektive wiederum an die des auktorialen Erzaehlers annaehert.
Als Stiller das Gefangnis verlaesst, aendert sich
mit der Situation auch die Erzaehlhaltung, ein anderer uebernimmt die
Vermittlung der folgenden Ereignisse. Aber der erste Teil ist kein reiner
Ich-Roman. Es ist nicht so, wie es Walter Jens als eine Moeglichkeit
beschrieben hat, von der der Autor keinen Gebrauch gemacht hat: "Anatol
Stiller sitzt an seinem Zellen-Tisch, haelt Rueckschau und konfrontiert die
Begebenheiten von heute - Ausgang und Gefaengnisbesuche - mit den Ereignissen
von gestern" (Jens 1971: 17). Der, der die Aufzeichnungen
niederschreibt, behauptet ja gerade, nicht Anatol Stiller zu sein. Wenn er ich
schreibt, so meint er nicht Stiller, sondern den Untersuchungsgefangenen
White. Diesem hat der Verteidiger ein Heft gegeben, in dem er sein Leben
aufschreiben soll, wohl um zu beweisen, dass ich eines habe [...],
wie er ironisch anmerkt. (Frisch 1992: 9)
An Stelle eines Lebensberichtes verfasst er
jedoch ein Tagebuch, das neben seinen Erlebnissen im Gefaengnis und einigen
wenig glaubhaften Geschichten aus Amerika nichts ueber sein frueheres Leben
enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. Das Tagebuch-Ich erweist sich als
ein Ich ohne Geschichte.
"Das Ich vermag sich offenbar allein als ein
gegenwaertiges zu dokumentieren" (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert -
genau genommen - erst seit zwei Jahren, seit dem Selbstmordversuch. Eine
Geschichte hat nur der verschollene Stiller aufzuweisen, ueber den aber gerade
nicht in der ersten, sondern stets in der dritten Person berichtet wird, der
also bis zum 7. Heft hin nie als Ich-Erzaehler in Erscheinung tritt.
"Das Ich wird ein Objekt", wie
Duerrenmatt sagt (Duerrenmatt
1971: 12), es wird von aussen, in der dritten Person, beschrieben, so wie die
anderen es sehen. Es vermittelt dem Leser das Bild Stillers in den Augen der anderen,
jenes Bild, vor dem er gerade geflohen ist.
Die Erzaehlhaltung ist also doppelt gebrochen,
einmal wird vom Roman-Ich in der dritten Person gesprochen, andererseits werden
diese Er-Berichte wiederum durch den Ich-Erzaehler vermittelt, der mit der
dargestellten Person identisch ist. Die Spannung zwischen erzaehlendem und
erlebendem Ich, die einen Reiz des Ich-Romans ausmacht, wird hier noch
gesteigert. Der Ich-Erzaehler bringt sich dem Leser immer wieder in
Erinnerung; obwohl er beteuert: "Ich will aber versuchen, in diesen
Heften nichts anderes zu tun als zu protokollieren, was Frau Julika
Stiller-Tschudy [...] mir oder meinem Verteidiger von ihrer Ehe selber erzaehlt
hat" (Frisch 1992: 90), schimmert seine innere Beteiligung an
den Vorgaengen von Anfang an durch.
Da gibt es einmal neutrale Einfuegungen wie ich
protokolliere [...], scheint es [...], offenbar [...], so sagt er [...], so
meint mein Staatsanwalt [...], so sagt Sibylle usw., die den Redefluss nur
kurz unterbrechen. Daneben stehen scheinbar distanzierende Kommentare wie Als
Fremder hat man den Eindruck (Frisch 1992: 89), es liegt mir sonst wenig
daran, mit dem Verschollenen einig zu sein (Frisch 1992: 100) oder Wieso
ist er eigentlich so offen zu mir? (Frisch 1992: 222).
Im zweiten Teil haben wir wiederum einen
Ich-Erzaehler, der aber nicht im Mittelpunkt, sondern am Rande des Geschehens
steht. Franz Stanzel nennt diese Erscheinung "Retrospektive mit
Randstellung des Ich- Erzaehlers" (vgl. Stanzel: 1955). Daher wird er
haeufig als neutraler, objektiver Beobachter angesehen. So betont Braun den
Protokollcharakter, den diese Aufzeichnungen ebenso wie Heft 2,4 und 6 trugen,
und er stellt sie daher als 8. Heft den 7 Heften des ersten Teiles zur Seite
(vgl. Braun 1959: 34 und 75).
Demgegenueber muss doch auf den entscheidenden
Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil hingewiesen werden, der
darin liegt, dass der Protokollant im Tagebuch eben derjenige ist, um den es
geht, waehrend sich Rolf distanziert zu dem Geschehen verhaelt. Juergensen
meint: "Rolf stellt seine epische Darstellung zu keiner Zeit in Frage;
er bleibt der autoritaere, allwissende Erzahler". (Juergensen
1972: 76)
Ist der Staatsanwalt wirklich ein allwissender
Erzahler? Hoechstens wohl insofern, als er bereits das Ende der Geschichte
- Julikas Tod kennt und von daher seinen Bericht zusammenfasst. Seine
Objektivitaet ist doch fraglich. Sein Verhaeltnis zu Stiller ist sicher
zwiespaeltig. Von diesem wird er im Tagebuch immer als sein Freund bezeichnet;
seine Freundschaft drueckt sich jedoch kaum in echten Hilfeleistungen aus.
Einmal besuchen er und seine Frau das Stillersche Ehepaar im Hotel, dann
vergehen anderthalb Jahre bis zu seinem ersten Besuch in Glion. Stillers Anrufe
waehrend dieser Zeit, die wohl ein Zeichen seiner schwierigen Situation sind,
sind Rolf laestig. Vielleicht spielt in seinem Unterbewusstsein immer noch die
Eifersucht auf den frueheren Liebhaber seiner Frau eine Rolle, was ihm ja auch
einmal - bei dem gemeinsamen Spaziergang zu dritt - zu Bewusstsein kommt: "In
den uebrigens seltenen Augenblicken solcher Art wurde mir das Vergangene doch
sehr bewusst; unsere Gegenwart zu dritt bestuerzt mich dann wie etwas
Unmoegliches, zumindest Unerwartetes" (Frisch 1992: 416). Zum
objektiven Berichterstatter eignet sich dieser Mann gewiss nicht
Auch das Nachwort ist also aus einer subjektiven
Perspektive heraus erzaehlt, was man beachten muss um die Ehe Stillers mit
Julika in ihrer letzten Etappe zu beurteilen. Rolf sieht in ihm den eigentlich
Schuldigen, aber was er berichtet - Julikas mangelnde Anerkennung fuer ihren
Mann, ihr Verschweigen der bevorstehenden Operation, schliesslich die Tatsache,
dass sie allein ins Krankenhaus geht - widerlegt eigentlich das, was er sagt.
Wir wissen nicht, was in Julika vorgeht, denn es gibt in diesem Buch keinen
allwissenden Erzaehler, der ins Innere seiner Romanfiguren sehen kann. Die
durchgehende Perspektivierung des gesamten Romans zeigt jede Figur entweder so,
wie sie sich selbst sieht, oder als Bildnis in den Augen der anderen,
niemals aber losgeloest aus ihrer zwischenmenschlichen Verflechtung. Nicht
epische Totalitaet, sondern Perspektivierung und Medialisierung sind die
Kennzeichen dieser Erzaehlhaltung.
Schlussfolgerung
Im ersten Kapitel der vorliegenden
Forschungsarbeit haben wir uns mit folgenden Themen auseinandergesetzt und sind
zu den Schluessen gekommen:
-
Die
zentralle Stellung in Frischs Werken nehmen Identitaetsfrage und
Bildnisproblematik ein. Die Titelgestalt vom Roman "Stiller" will
auch mit sich selbst nicht identisch sein, er fuehlt sich als Versager und
flieht nach Amerika.
-
Waehrend
der Untersuchung der strukturellen Besonderheiten haben wir festgestellt, dass
Frischs Einstellung zum Schreibprozess, seine Wahl der Architektonik und Form
des Romans die strukturelle Offenheit moeglich macht. Das bedeutet, dass der
Autor dem Leser seine Meinung nicht aufzwingt und der Leser dementsprechen
ueber verschiedene Interpretationsmoeglichkeiten verfuegt.
-
Der
komplizierte Aufbau des Romans widerspiegelt seine Problematik. Man kann zwei
Handlungsstraenge verfolgen, die White- und Stillerhandlung, die am Ende
zusammenfuehren, denn die Doppelidentitaet Stiller/White wird zu einer Einheit.
-
Die
Form und Funktion des Tagebuches ist im Roman mit der Erzaehlsituation eng
verbunden, weil die Erzaehlsituation durch Stillers Aufenthalt im Gefaengnis
bestimmt ist. In der Analyse wird Ich- Erzaehlsituation und ihre Besonderheiten
vom Standpunkt der Erzaehltheorie von Stanzel untersucht. Der Autor waehlt die
Ich-Erzaehlsituation, weil er innerliche Welt der Titelgestalt aus subjektiver
Sicht betrachten will. In dieser Form wird der Leser fast automatisch ein Teil des Buches, da er
sich durch die gewählte Erzählperspektive in die Rolle Stillers
hineinversetzen muß.
II.
Zusammenspiel
der Realitaeten
Der
komplizierte Aufbau des Romans, die von Max Frisch gewaehlte Form des Tagebuchs
und als Folge die offene Struktur des Romans haben dazu gefuehrt, dass der Text
nicht homogaen ist. Im Rahmen der fiktionalen Wirklichkeit des Romans koennen
verschiedene Schichten der inneren Realitaet ausgesondert werden. Die
Mehrschichtigkeit kommt dann zum Ausdruck, wenn der Leser mit
Perspektivierungen der Erzaehlung und verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit
konfrontiert wird. Das sind:
äStillers
Einreise in die Schweiz einerseits und Nachwort des Staatsanwalts andererseits.
äDie Knobel erzaehlten Geschichten
äParabolische Geschichten
äTraeume
Daraus ergibt sich die
Notwendigkeit, uns mit dem komplizierten Problem der textwirklichkeit
auseinanderzusetzen und auf verschiedene Ebenen der Textwirklichkeit im Roman
praezieser einzugehen.
1.
Der
Begriff der Textwirklichkeit. Fiktionalitaet und Virtualitaet im literarischen
Text
Unter
der fiktionalen Wirklichkeit ist nicht die Nachahmung der objektiven
Wirklichkeit zu verstehen, sondern eine besondere Wirklichkeit, die sich im
Rahmen eines Textes realisiert und existiert. Die fiktionale Wirklichkeit ist
die innere Wirklichkeit eines fiktionalen, das heisst eines literarischen
Textes, die in diesem Text und durch diesen Text existiert und ueber eigene
Gesetzmaessigkeiten verfuegt.
"Und
dann kam die Lava, langsam, aber unaufhaltsam, in der Luft erkaltend und
erstarrend, ein schwarzer Brei mit Wirbeln von weisslichem Dampf; nur in der
Nacht sah man noch die innere Glut in diesem steinernen Brei, der naeher und
naeher kam, haushoch, naeher und naeher: zehn Meter im Tag". (Frisch, M. 1992: 47)
Anders
Traeume und Luegen: "Im Fall einer erdachten Welt sind Objekte und
Situationen in der erdachten Textwelt Referenten der sprachlichen
Aeusserungen" (Paduceva 1996: 244). Diese Fragmente im Rahmen eines
fiktionalen Textes sind 'Eigentum' und 'Produkt' des Bewusstseins der
Textfiguren und somit im referenziellen System der Textwelt nicht
verifizierbar. Sie verfuegen meistens ueber einen besonderen Status und lassen
sich durch inhaltliche und sprachliche Signale aus dem Textganzen aussondern.
"Von
Julika getraeumt- wieder fast das gleiche: sie sitzt in einem Boulevard-Cafe
unter vielen Leuten und versucht, mir zu schreiben, den Bleistift in den Lippen
wie ein Schulmaedchen in Not, ich will auf sie zugehen, bin aber von drei
fremden (deutschen) Soldaten verhaftet, weiss, dass Julika mich verraten hat.
Unsere Blicke treffen sich." (Frisch 1992:333)
Diese
Textkonstruktion, naehmlich "Erzaehlung in der Erzaehlung", oder mit
anderen Worten "Text im Text", spitzt in erster Linie das Moment des
Spieles im Text zu. Gleichzeitig wird die Rolle der Textgrenzen unterstrichen,
sowohl der aeusseren, die den Text von dem 'Nicht-Text' trennen, als auch der
inneren, die Textteile mit verschiedenen Coden aussondern.
Das
Zusammenspiel verschiedener Textschichten kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck,
weil die Elemente des 'Nicht- Textes' in einer Perspektive in den Text
eingeschlossen, in einer anderen aus dem Text ausgeschlossen sind, sondern auch
dadurch, dass in beiden Faellen ihr Relativitaetsgrad sich von dem des
Haupttextes unterscheidet.
Der
Zeichencharakter von allem Kuenstlerischen ist dual schon seiner Natur nach.
Einerseits fungiert der Text als eines der Elemente der realen Welt, das sein
eigenes Dasein hat. Andererseits aber ist der Text die Kreatur des Autors.
Gerade in dieser Dualitaet entsteht "das Zusammenspiel auf dem
semantischen Feld 'Wirklichkeit- Fiktion' " (Lotman 1992: 72).
Nach
W. P. Rudnev ist die Konstruktion "Text im Text" nicht nur
literarische, sondern auch kuenstlerische Erscheinung. Als Beispiel fuehrt der
Wissenschaftler die Einfuehrung von Dokumentarbildern in einen Film, oder den
mehrschichtigen Sujetaufbau an.
J. M.
Levin zum Beispiel untersucht solche literarischen Griffe, wie Vermischung von
Traum und Wirklichkeit, Motive der Doppelgaenger, mit deren Hilfe der Autor
einen mehrschichtigen Sujetaufbau erzielt. In diesen Konstruktionen bildet das
Fabulieren die Oberflaeche und dient der Entstehung des Haupthemas. Das
Haupthema basiert vorwiegend auf formellen Elementen- auf den Strukturen wie
"Text im Text" mit den gebrochenen Kompositionsrahmen, wo die Grenzen
zwischen Realitaeten verzerrt sind. (vgl. Levin 1981: 55-58)
Indem
Autor seine Figuren etwas traeumen, erfinden, luegen oder erzaehlen laesst,
wird der Prozess des Erfindens selbst expliziert. Lotman (1981) hat diese
"Kaestchenkonstruktion" eines Textes mit dem Spiegelmotiv in der
Malerei verglichen.
"Fuer
die Bezeichnung dieses Textphaenomens scheint der Terminus "virtuell"
geeignet zu sein. […] Die Wirklichkeit, die sich im Bewusstsein der Figuren
eines literarischen Textes konstituiert, kann als "virtuelle
Wirklichkeit" bezeichnet werden". (Čelikova 1998: 224)
Virtuelle
Fragmente im Text helfen oft das Verborgene ans Licht zu bringen, das heisst,
sie sind Schluessel zur Intention des Autors. 'Das Zusammenspiel der
Realitaeten' im Rahmen einer fiktionalen Welt ist einer der verbreitesten Griffe
der modernen Literatur. Dieses Zusammenspiel basiert auf den Wechselbeziehungen
zwischen der fiktionalen und virtuellen Wirklichkeit. Diese zwei Welten koennen
sowohl voneinander abhaengig sein und einander ergaenzen, als auch einander
verschlingen. Manchmal dringt das virtuelle Fragment in die Struktur des
Erzaehlens ein und ersetzt sie.
Lotman
bezeichnete diese "virtuelle Wirklichkeit" als "doppelter
Code". In diesem Zusammenhang behauptete er, dass diese Erscheinung dazu
fuehrt, dass der Hauptraum des Textes, das heisst seine fiktionale
Wirklichkeit, als 'real' empfunden wird. Daraus folgt, dass der Hauptext als
'real' und virtuelle Abschnitte darin als 'fiktional' fungieren. Nachstehend
sprechen wir von dem Zusammenspiel der Textrealitaeten, das auf
gegenueberstellung "Wirklichkeit- Fiktion" basiert.
Man
kann das mit Recht mit der Opposition "Vorhandenes-Moegliches"
vergleichen. In dieser
Hinsicht ist
Rolf Kieser zuzustimmen, der gerade die durch das Tagebuch forcierte "Konfrontation
von Dokumentation und reiner Fiktion, der beiden Zeitbegriffe der linearen
Chronologie und der diachronischen Vergaengnis, der Oeffentlichkeit und des Individuums,
des objektiv erfassbaren Geschehnisses und der subjektiv erlebten Erfahrung,
der Ich- und der Er-Position" als Weg sieht, das eigene Wesen [...] in
dialektischer Befragung zu ertasten." (Kieser 1978: 126,) Es ist keine Konkurrenz, sondern ein
notwendiges sich Ergaenzen. Auch wenn "das Faktum nur geringen Wert
[hat], da sich das Ich in ihm nicht angemessen ausdruecken kann," (edg.: 132) so ist der Bericht, das Protokoll
u.ae. von Bedeutung, weil die Umwelt des Ich widerspiegelt wird.
Die
Analyse von diesen Konzepten gibt uns die Moeglichkeit zur Untersuchung des
Aufbaus des Romans vom Standpunkt seiner inneren Realitaeten aus zu uebergehen.
2. Mehrschichtigkeit der
Textwirklichkeit in "Stiller"
Der
Roman "Stiller" weist eine aehnliche "Kaestchenstruktur"
auf. Das vollzieht sich erstens auf verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit
und zweitens traegt die perspektivierte Erzaehlweise dazu bei.
Im Rahmen des
vorliegenden Forschungsthemas werden drei Ebenen der fiktionalen
Textwirklichkeit untersucht, weil sie als Elemente des Zusammenspiels der
Realitaeten fungieren. Die Mehrschichtigkeit kommt in "Stiller" in solchen
Textfragmenten wie amerikanische Geschichten, die Knobel erzaehlt werden,
parabolischen Geschichten und Traeumen zum Ausdruck.
Frisch will die Wirklichkeit nicht nur in Fakten suchen, sondern
gleichwertig in Fiktionen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen
waehlt und damit spielt, um sich auszudruecken,
indem er Geschichten erzaehlt, also moegliche Beispiele gibt, fuer das, was er erlebt hat, laeuft er nicht Gefahr, sich selbst
im Bildnis festzulegen.
Die Notwendigkeit
sich mitzuteilen, kommt
in "Stiller" dann zum Ausdruck, wo der Gefangene dem Waerter Knobel
Geschichten erzaehlt.
Diese Geschichten sind
Beispiele fuer das obenerwaehnte Phaenomen "Text im Text" und tragen
zur inneren Mehrschichtigkeit des Textganzen bei.
Der Gefangene nennt das
Rekonstruieren von Stillers Lebensgeschichte "Protokollieren" (der
schweizerische Text). Damit will er zweifellos seine Objektivitaet betonen und
beweisen, dass er nichts mit "Erinnerung" zu tun hat. Neben der
Lebensgeschichte Stillers spielt auch die Lebensgeschichte des Gefangenen Mr.
White eine Rolle (der amerikanische Text), oder besser zu sagen sein Leben;
denn er hat keine Lebensgeschichte, keine Vergangenheit, sein Leben besteht
eigentlich nur aus den Geschichten, die er dem interessierten Waerter Knobel zum
besten gibt. Er unterscheidet dabei zwei Arten der Geschichten: einmal die
Erzaehlungen von "Tatsachen", zum anderen jene Geschichten, die der
Gefangene als "wahre Geschichten" bezeichnet. Diese Geschichten haben
fuer den Gefangenen eine tiefere, symbolische Bedeutung. Nicht die aeussere,
mit Fotos belegte Wahrheit ist fuer ihn wichtig, sondern innere, psychische
Realitaet. Gerade im Fabulieren, im Erfinden von Geschichten, umschreibt der
Erzaehler sich selbst, ohne sich selbst aber zu kennen. Nachtraeglich erst kann
er sich im Erfundenen selbst finden. Fuer Stiller wird schreiben in erster Linie zur
Strategie bei der Erforschung seines Ich. Es ist der Raum zum fabulieren. Durch
seinen Vergleich des Schreibprozesses mit einer sich haeutenden Schlange, wird
dies besonders deutlich: "Man kann sich nicht niederschreiben, man kann
sich nur häuten" (Frisch 1992: 330). Das Geschriebene, wird wie die abgelegte Haut der
Schlange, zum Abfallprodukt des Selbstfindungsprozesses.
Fuer Stiller sind die
Geschichten deshalb nicht nur der Ausdruck der eigenen Wirklichkeit, sondern
zugleich die Moeglichkeit, sie (die Wirklichkeit) zu erkennen.
Die Aufzeichnungen sind
eine Auseinandersetzung mit Stiller, der er nicht sein will. In diesen
Aufzeichnungen versucht der Gefangene die Lebensgeschichte Stillers zu
rekonstruiren.
Auch in der
psychoanalytischen Therapie wird die Lebensgeschichte eines Menschen
rekonstruiert. Freud spricht dabei vom "rueckschreitenden Charakter der
Analyse" und beschreibt diese psychoanalytische Technik als Mittel, um
"Verborgenes ans Licht zu ziehen". (Freud 1910: 112) Diese
Aufzeichnungen kann man mit der Arbeit des Psychoanalyse vergleichen: die
Handlung des Romans besteht in nichts anderem, als in der allmaehlichen
Enthuellung, dass Mr. White wenigstens aeusserlich der verschollene Stiller
ist.
Auf die Motivstruktur dieser Geschichten, vor allem aber auf die
Verflechtung von Fakten und Fiktionen darin moechte ich extra eingehen.
2.1 Erzaehlte Geschichten
Eine der Knobel
erzaehlten Geschichten ist die Geschichte mit der "kleinen
Mulattin". (Frisch 1992: 50) White beschreibt eine seiner Heldentaten
am Rio Grande mit ausgepraegter Wahrhaftigkeit.
"[…] wir hockten
gerade am unser Feuer, denn die Abende in der Wueste sind bitterkalt,
natuerlich gab es weit und breit kein Holz, wir verbrannten Putzfaeden, was
mehr Gestank, als Waerme gibt, und besprachen mit den Schmugglern, wie sie uns
in der Nacht ueber die Grenze schmuggeln koennten[…]." (Frisch 1992: 51)
Ploetzlich taucht der
Mann von der entfuehrten Mullatin, der eindeutig kriegerisch gestimmt ist, in
einer Limousine auf. Und wie schon erwaehnt war, erschiesst White den letzten "auf
der Stelle". (Frisch 1992: 52)
Der eigentliche Sinn der
Geschichte laesst sich erst dann verstehen, wenn sie mit der realen Geschichte
verglichen wird. Die wahre Geschichte geraet auf die Oberflaeche viel spaeter
und wird nicht mehr dem interessierten Waerter erzaehlt, sondern gehoert den
uebrigen Gefaengnis- Aufzeichnungen an.
"Ich schwoere: es
gibt eine Mulattin namens Florence, Tochter eines Dockarbeiters, ich habe sie
taeglich gesehen und einige Male mit ihr geplaudert ueber einen allerdings sehr
trennenden, aus alten Teertonnen ververtigten und von Brombeeren umwucherten
Zaun hinweg. Es gibt sie, diese Florence mit dem gazellenhaften Gang. Ich traeume von
ihr, gewiss, die wildesten Traeume." (Frisch 1992: 187)
Die "kleine
Mulattin" aus der White- Geschichte bekommt nun einen tastbaren realen
Umriss und einen Namen. Damit aber kommt ein Signal der Umschaltung der
Realitaeten zum Ausdruck. In der ersten Geschichte geht White als Frauenheld zu
Werke: ""Ich mag die Neger", sage ich, "aber ich
vertrage keine verheirateten Maenner, auch wenn es Neger sind. Immer mit
Ruecksicht, das liegt mir nicht! Natuerlich fuhren wir sofort ueber die
Grenze."" (Frisch 1992: 52)
In der Wirklichkeit aber
kommt an Stelle Whites Stiller, von einem Schuerzenjaeger keine Spur. Davon
zeugt eine Episode im Bar.
" Man weiss, wie
Neger tanzen. Ihr Partner war gerade ein halbdunkler US-Army-Sergeant. […]. Ein
grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen, mit zwei Beinen aus Gummi
und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust […], ein Kerl, der den Brustkorb und
die Schultern eines Michelangelo- Sklaven hatte, der konnte nicht mehr;
Florence tanzte allein. Ich haette jetzt einspringen koennen. Wenn ich gekonnt
haette." (Frisch
1992: 188)
"[…] sie sah
mich, sagte: Hallo! Nice to see you! Und es troestete mich fast ueber das
Bitterschoene meiner Verwirrung; denn ich wusste sehr wohl, dass ich diesem
Maedchen nie genuegen koennte." (Frisch 1992: 189)
Mr. White ist in den
Geschichten mit allen Attributen eines Machos ausgeruestet: er verhandelt mit
den Schmugglern in der Nacht, erschiesst den Rivalen auf der Stelle. In
Wirklichkeit erweist sich eher Joe als richtiger Macho: "Ein grosser
Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen, mit zwei Beinen aus Gummi und mit
dem halbgeoeffneten Mund der Lust […]". Stiller dagegen ist wiederum
ein Versager "wenn ich gekonnt haette".
Und dann eine weitere
Parallele, die diese Kluft zwischen White's erwuenschten "Macho-Welt"
und Stillers Verwirrung gegenueber Frauen verdeutlicht: in der Macho-
Geschichte erschiesst der kaltblutige White den betrogenen Joe. In Wirklichkeit
aber ist es Stiller, der zu kurze kommt.
"Der USA-Army-Sergeant
stand auch so herum. […]. Dann aber, endlich, kam meine herrliche Florence
hinzu, gab mir ein Glas Bowle und sagte: "This is Joe, my husband."
Ich gratulierte." (Frisch 1992: 191)
Der wilde Westen, das
exotische Mexiko dienen als Kulissen einer phantasierten, abenteurlichen
Freiheit, die sich Stiller, Realitaeten tauschend, nehmen will. Zum Symbol
dieses durch keine Fessel zu bindenden Ausbruchs wird im Roman die Beschreibung
des Vulkans Paricutin in Mexiko.
"Mitten aus der
Finsternis von toten Schlacken, die der Mond bescheint, ohne ihre Schwaerze
tilgen zu koennen, schiesst sie hervor wie hellichter Purpur, stossweise wie
das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie muss sehr duenn und fluessig sein,
diese Lava, fast blitzhaft schiesst sie ueber den Berg hinunter, langsam an
Helle verlierend, bis der naechste Ausguss kommt, Glut wie aus dem Hochofen,
lauchtend wie die Sonne, die Nacht erluechtend mit der toedlichen Hitze, der
wir alles Leben verdanken, mit dem Innersten unseres Gehirns. Das muessten Sie
sehen! In unserer Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel; wie
er sich bloss im Tanz entspannen koennte, im wildesten aller Taenze,ein
Ueberschwang von Entsetzen und Entzuecken, wie er die unbegreiflichen Menschen,
die sich das warme Herz aus dem Leibe schnitten, erfasst haben mag." (Frisch 1992: 46-47)
Mit dieser Schilderung
ersetzt Stiller zweifelsohne ihm widerliche Wirklichkeit, stellt fiktive
Freiheit dem realen innerlichen Zustand gegenueber.
"Zuweilen,
allein in meiner Zelle, habe ich das Gefuehl, das ich all dies nur traeume; das
Gefuehl: Ich koennte jederzeit aufstehen, die Haende von meinem Gesicht nehmen
und mich in Freiheit umsehen, das Gefaengnis ist nur in mir." (Frisch 1992: 20)
Die Verwandschaft
zwischen Dichtung und Psychoanalyse ist nicht zu uebersehen: sie haben beide
das menschliche Seelenleben zum Gegenstand, was ganz besonders fuer Frischs
Literatur zutrifft. Ein Unterschied besteht vor allem darin, dass der
Psychoanalytiker sich vorwiegend mit dem Seelenleben anderer befasst, der
Dichter dagegen die Figuren, die er darstellt aus seinem eigenen Innern
schoepft. (vgl. Freud 1907: 82)
Die Wirklichkeit liegt
also nicht in der aeusseren Biographie; sie kann nur mit Hilfe vom Erdichteten
ausgedrueckt und umschrieben werden. In seinen Phantasien will sich Stiller
selbst erkunden.
2.2 Parabolische Geschichten in
"Stiller"
Das Erzaehler-Ich
in "Stiller" instrumentalisiert die Fiktion, um
u.a. seiner Suche nach dem wahren Ich Ausdruck zu verleihen. Das Eintauchen in
die Schichten seines Bewusstseins wird zur Abenteuergeschichte ueber eine
Expedition in eine Grotte. Die Geschichte beginnt wie die anderen Knobel erzaehlten Geschichten als
Abenteuer in Texas, der Erzaehler schildert sich als Cowboy. Bald jedoch
gewinnt die spannende Geschichte von der Erforschung einer Hoehle eine tiefere
Dimension: aus dem "unterirdischen Arsenal der Metaphern"
(Frisch 1992: 165) wird ein Sinnbild des Unterbewusstseins, in dem der Kampf
zwischen Jim und Jim, zwischen dem alten und dem neuen Ich vor sich geht. Das
ist ein klarer Hinweis auf die Persoenlichkeitsspaltung des Erzaehlers, als
auch auf die Todeserfahrung, die Stiller bei seinem Selbstmordversuch gemacht
hat; dies wird noch deutlicher beim Anblick des Skelettes, wenn der Erzaehler
sagt: "[…] ich […] musste meinen ganzen Verstand zusammennehmen, um
nicht das Skelett, dass da im runden Schein der Lampe lag, schlechterdings fuer
mein eigenes zu halten" (Frisch 1992: 162) Der schwierige Aufstieg aus
der Hoehle ist ein Symbol fuer die Wiedergeburt des neuen Ich, die Stiller nach
seinem Selbstmordversuch erlebt hat. Vergleicht er seine Erfahrung danach mit
einem Kindheitserlebnis: "[…] als Buben krochen wir manchmal durch
einen Abwasserkanal, das ferne Loch mit Tagesschein erschien viel zu klein, als
dass man je herauskommen koennte" (Frisch 1992: 379), so beschreibt er
den Ausgang der Hoehle mit aehnlichen Worten: "[…] ich sah ein paar
Sterne, ein paar scheinlose Funken in unendlicher Ferne". (Frisch
1992: 160)
Der Preis fuer diese
Wiedergeburt ist der Kampf mit seinem 'Alter Ego' und dessen Vernichtung; von
ihm heisst es spaeter: "Ich denke, dieser Verschollene wird sich auch
nicht mehr melden!" (Frisch 1992: 172)
So bestaetigt die
Antwort des Erzaehler-Ichs auf die Frage des Gefaengniswaerters Knobel, ob er
die Hauptperson in dieser Geschichte sei, eben dieses Verfahren, Erlebnismuster
in Fiktionen auszudruecken: "Nein, [...] das gerade nicht! Aber was ich selber erlebt habe, sehen Sie,
das war genau das gleiche - genau." (Frisch
1992: 172).
In aehnlichem
Maße tragen die
Geschichte von Isidor und das Maerchen von Rip van Winkle die Erfahrung in sich, den
Anforderungen einer Rolle nicht gerecht zu werden. Die beiden sind Heimkehrgeschichten, obwohl Jim White
die Schweiz zum ersten mal bereist: der Heimkehrer ist naemlich Stiller.
Die erste Geschichte, die
das Thema "Heimkehren" anschlaegt ist die von Isidor. White schreibt
sie mit der Absicht nieder, sie Julika zu erzaehlen, die aus Paris geholt wird,
um mit ihm konfrontiert zu werden. "Eine wahre Geschichte", so
betont er ausdruecklich (Frisch 1992: 41); es ist der erste Hinweis darauf,
dass die "kleine Schnurre" (edg) in Beziehung zu seiner
eigenen Problematik steht. Hier kann man zahlreiche Parallelen zwischen Whites
Fiktion und Stillers Realitaet ziehen; erstens durch die Zahl der Ehejahre,
denn auch Stiller und Julika waren neun Jahre verheiratet, ehe Stiller-wie
Isidor- ploetzlich verschwand. Ironisch heisst es, es sei im Grunde eine
glueckliche Ehe gewesen, auch werden beide Frauen als sehr liebenswert
bezeichnet. Noch deutlicher wird die Beziehung zwischen dem Fiktiven und
Realen, als der Erzaehler berichtet, er habe die Geschichte seiner schoenen
Besucherin angepasst, "also unter Weglassung der fuenf Kinder und unter
freier Verwendung eines Traumes […] Isidor gibt, sooft er auftaucht, keine
Schuesse in die Torte, sondern zeigt nur seine beiden Haende mit
Wundmalen" (Frisch 1992: 56). Der Heimkehrer will mit dieser
Geschichte sich und seine Motive Julika verstaendlich machen. Julika aber
reagiert genauso wie Isidors Frau, indem sie mit fast den gleichen Worten sagt:
"Warum hast du nie geschrieben? Wo bist du nur all die Jahre
gewesen?" (Frisch 1992: 59) Mit anderen Worten: sie ist nicht bereit
in ihm einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen: "Ach, […] du bist
noch immer der gleiche" (Frisch 1992: 57)
Eine Ehe- und
Heimkehrgeschichte ist auch das Maerchen von Rip van Winkle, das Frisch von
Washington Irving uebernommen und fuer seine Zwecke leicht veraendert hat. Der
Heimkehrer nennt sich in diesem Maerchen nicht White, sondern Rip van Winkle,
wodurch eine parabolische Spiegelung entsteht. Die Ausgangssituation ist in
beiden Geschichten aehnlich. Stiller erkennt sich in Rip van Winkle wieder. Wie
dieser ist er in den Augen der Gesellschaft ein Versager, waehrend seine Frau,
ebenso wie Julika, von allen bedauert und bewundert wird.
Im Grunde ist dieser Rip
van Winkle ein "herzensguter Kerl" (Frisch 1992: 72) und ein
Fischer, "der nicht um der Fische willen fischte, sondern um zu
traeumen"(edg), und aehnelt so Stiller dem "deutschen
Traeumer".
" Rip fuehlte es
wohl, dass er einen Beruf haben muesste, und liebte es, sich als Jaeger
auszugeben"(Frisch
1992: 73), doch auf weibliche Tiere vermag der "Jaeger mit dem
Schiessgewehr" (edg) nicht abzudruecken- "stets hatte er mehr
erlebt, als geschossen". (edg).
Sehr wichtig fuer das
Verstehen Stillers Intention ist der Schluss der Geschichte. Rip van Winkle
bleibt bei Frisch ein "Fremdling in fremder Welt" (Frisch
1992: 76), der an seiner Identitaet zweifelt. Auf die Frage, wer er ist,
antwortet er: "Gott weiss es, gestern noch meinte ich es zu wissen,
aber heute, da ich erwacht bin, wie soll ich es wissen?" (edg). Fast
die gleichen Worte gebraucht der Tagebuchschreiber, um seine Situation zu
beschreiben: "Weiss ich denn selbst, wer ich bin?" (Frisch
1992: 84) Dies schreibt er, kurz nachdem er dem Verteitiger das Maerchen
erzaehlt hat um diesem "aus seinem nachgerade ergreifenden
Missverstaendnis meiner Lage […] herauszuhelfen" (Frisch 1992: 70)
Waehrend aber der heimkehrende White wider seinen Willen sofort als Stiller
identifiziert wird, bleibt van Winkle selbst gegenueber seiner Tochter
unbekannt. Rip van Winkle gelingt es praktisch wider Willen, was Stiller mit
allen seinen Kraeften vergeblich anstrebt: er kehrt als Unbekannter, als
Fremder in sein Dorf zurueck.
Der Tagebuchschreiber
erfindet also die Geschichten, um einerseits das Erwuenschte ans Licht zu
bringen, um widerliche Wirklichkeit zu ersetzen und andererseits um dem
Bildnis, dass seine Umwelt von ihm hat, nicht gerecht zu werden. Er ist auf der
Suche nach seiner "Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie
mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle."
(Frisch 1992: 49)
Mit Traeumen verhalte es
sich ebenso, in beiden Faellen spielen vor allem verdraengte Wuensche eine
Rolle. Das Erfinden von Geschichten und die durch Traeume ersetzte Wirklichkeit
geben dem Tagebuchschreiber eine Moeglichkeit sich selbst zwischen dem Fiktiven
und Realem zu finden.
2.3 Traeume
Der Roman "Stiller"
ist, wie Frisch einmal selbst formuliert hat, "das Tagebuch eines
Gefangenen, der sich selbst entfliehen will" (Bienek 1969: 24) Aber
mit Flucht ist nicht nur die Flucht in den Raum gemeint, sondern eine Flucht
vor sich selbst.
Diesen Gedanken wiederspiegeln
zwei Traeume von Stiller, die im Rahmen dieser Behauptung analysiert werden.
Der erste ist der sogenannte "Traum von Militaer". Diesen Traum
verursacht eine Fahrt in ein Zeughaus, "um die soldatische Ausruestung
des Verschollenen zu besichtigen" (Frisch 1992: 152)
Im Traum werden vom
Tagebuchschreiber die Ereignisse der vergangenen Woche verarbeitet und so
kommen sie dann zum Ausdruck: "Getraeumt: ich trage den Waffenrock von
Stiller, dazu Helm und Gewehr." (Frisch 1992: 174).
Es war tatsaechlich der
Fall waehrend des Besuches, dass White gezwungen war die Militaerausruestung
des Verschollenen anzuziehen: "Ich komme nicht zu Wort. Auch den
Waffenrock ihres Verschollenen habe ich anzuziehen" (Frisch 1992: 154)
"[…] ich sollte
meine Unterschrift geben, um den Empfang eines Gewehres und der neuen
Marschschuhe zu bestaetigen." (Frisch 1992: 155)
Nach Freuds These: "Durch
den Traum koennen wir manches wissen, was wir uns weigern, wach zu
wissen." (Freud 1945: 66) koennen wir behaupten, dass jeder Traum
seinen Sinn hat. Er sieht in dem Traum einen Vermittler zwischen dem
Unterbewusstsein und dem Bewusstsein. Der Mensch aeußert nach Freud in jedem Traum
seinen innersten geheimen Willen, er sieht den Traum als "Hueter des
Schlafes".
Uns auf den Freudschen
Gedanken stuetzend, koennen wir behaupten, dass das ausschlaggebende in diesem
Traum, in dieser Wirklichkeitsbewaeltigung die Tatsache ist, die Stiller
spaeter in seinen Aufzeichnungen protokolliert.
"Es ist komisch,
nicht einmal im Traum fuehle ich mich als Mitrailleur Stiller" (Frisch 1992: 174)
Dieser Satz zeugt davon,
dass Stiller sogar in Traeumen den Gedanken nicht aufgibt von der Wirklichkeit
zu fliehen, ihm aufgezwungene Realitaet loszuwerden und sich selbst ein Fremder
zu sein.
Dieser Flucht von der
Wirklichkeit und vor allem vor sich selbst liegt das Gefuehl zugrunde, in allem
ein Versager zu sein.
" Ich bin kein
Mann. Jahrelang habe ich davon getraeumt: ich moechte schiessen, aber es
schiesst nicht- ich brauche dir nicht zu sagen, was das heisst, es ist der
typische Traum der Impotenz". (Frisch 1992: 269)
Der Traumdeutungstheorie
von Sigmund Freud zufolge lassen sich Traeume mit Hilfe ihrer Symbole
verstehen. Die letzten sind mehrdeutig und koennen verschiedene Bedeutungen
haben.
Der Gegenpol zum
Fluchtbild ist das Bild des Kampfes, das in Traeumen in vielen Variationen
auftaucht. So kann man davon traeumen, verbal mit jemandem zu kaempfen, also zu
streiten, man kann sich in Handgreiflichkeiten verwickelt sehen, oder man kann
von Krieg traeumen.
Diese Symbolik ist
besonders fuer die Interpraetation des Traums von Stiller wichtig. Normalerweise wird Kampf als
ein Konflikt mit sich selbst gedeutet; man hegt einander widersprechende
Gefuehle oder Gedanken. Bei der Deutung ist auch wichtig, ob der Kampf gewonnen
oder verloren wird. Im ersten Fall koennen durchaus positive Gefuehle geweckt
werden, im zweiten Fall- und das ist gerade der von Stiller- ist die Sache
frustrierend und kann zum Ausloeser fuer Fluchttraeume werden.
Stiller fuehlt sich als einer, der versagt hat, er will eine
Vergangenheit abschuetteln, die fuer ihn voll negativer Erinnerungen ist. Sein
Versagen empfindet er in dreifacher Hinsicht: als Kaempfer, als Liebender, als
Kuenstler. Als Kaempfer hat er in Spanien versagt, wo er als Freiwilliger am
Buergerkrieg teilgenommen hat. Dass er nicht auf die Feinde geschossen hat,
obwohl er den Befehl und die Moeglichkeit dazu hatte, kann er sich selber nie
verzeihen.
Hier werden zwei Realitaeten miteinander konfrontiert:einerseits
ist es die Wirklichkeit, die mit dem Spanienerlebnis verbunden ist:
"Ich hatte einen Auftrag, ich hatte mich sogar darum
beworben, ich hatte den Befehl, die Faehre zu bewachen, einen vollkommen klaren
Befehl. Was weiter! Es ging nicht um mich, es ging um tausend andere, um eine
Sache. Ich hatte zu schiessen. Wozu war ich in Spanien? Es war ein
Verrat." (Frisch 1992: 268)
Andererseits ist es die fiktive Realitaet, die der wiederkehrende
Traum vom Gewehr, das nicht losgeht, beinhaltet: "ich moechte
schiessen, aber es schiesst nicht." (Frisch 1992: 269)
Von diesem Erlebnis kommt er innerlich nicht los, es wird in einer
Gesellschaft erzaehlt, in der er seine spaetere Frau Julika kennen lernt, und
ebenso erzaehlt er es spaeter Sibylle, als sie ihn zum ersten Mal in seinem
Atelier besucht. Waehrend Julika gar nicht versteht, welche Bedeutung dieses
Erlebnis fuer ihn hat, macht ihn Sibylle darauf aufmerksam, dass er etwas auf
sich genommen habe, was seinem Wesen gar nicht entsprach. "Wer verlangt
von dir, dass du ein Kaempfer bist, ein Krieger, einer, der schiessen
kann?"
(Frisch 1992: 269), fragt
sie ihn. Sie sieht, dass Stiller sich selbst ueberfordert hat, dass er schon
damals etwas anderes sein wollte, als er eigentlich war. "Er leidet an
der klassischen Minderwertigkeitsangst aus uebertriebener Anforderung an sich
selbst" (Frisch 1992: 252), so beschreibt der Tagebuchschreiber im
Rueckblick den verschollenen Stiller. Die Niederlage in Spanien, als die
Stiller dieses Erlebnis immer wieder bezeichnet, ist einer der Hauptgruende
fuer seine Minderwertigkeitskomplexe. Natuerlich betreffen diese Komplexe auch
den erotischen Bereich, und den immer wiederkehrenden Traum vom Gewehr, das
nicht losgeht deutet Stiller selbst als "typische(n) Traum der
Impotenz" (Frisch 1992: 269). "Schiessen" ist in diesem
Zusammenhang ambivalent- woertlich Bereitschaft jemandem das Leben zu nehmen,
metaphorisch Bereitschaft jemandem das Leben zu geben. Das Gewehr ist
demzufolge in der Semantisierung durch Stiller woertlich Mordinstrument, metaphorisch
Sexualorgan. Stillers Angst bleibt rein psychologisch. Er will "nicht
geliebt werden"(Frisch 1992: 269) und hat "eigentlich
Angst vor Frauen" (Frisch 1992: 254), doch "immer war
da ein Weib " (Frisch 1992: 311). Er kompensiert die Angst und "erobert
mehr, als er zu halten vermag" (Frisch 1992: 254).
Zwar ist Stiller nicht impotent, aber es gelingt ihm nicht, eine
dauerhafte Bindung zu einer Frau zu finden. Die Ehe mit seiner Frau Julika wird
fuer ihn zu einer Probe, an der er scheitert. Seine Schuldgefuehle werden
dadurch verstaerkt, dass Julika krank wird und in ein Sanatorium nach Davos
gehen muss. Zwar hat er inzwischen in Sibylle eine Frau kennengelernt, deren
heitere, offene Art ihm eine weniger problemgeladene Beziehung und Bindung
moeglich erscheinen laesst, jedoch ist sein Verhaeltnis zu ihr wiederum durch
seine Schuldgefuehle gegenueber Julika belastet, und so wird sein Versagen als
Liebender zum weiteren Anlass seiner Flucht nach Amerika.
Der dritte Punkt, in dem er sich als Versager fuehlt, ist sein
Beruf, die Bildhauerei; ob zu Recht oder nicht, kann aus dem Text nicht
eindeutig erschlossen werden. Mr. White schreibt darueber: "Wie begabt
er nun eigentlich war, ihr verschollener Stiller, daruber gingen die Meinungen
offenbar von Anfang an auseinander, und es gab Leute, die ihn nie fuer einen
Kuenstler hielten" (Frisch 1992: 91). Sibylle dagegen ist beim
Blaettern in seinem Skizzenbuch "bestuerzt im Gefuehl, sich in einen
Meister verliebt zu haben" (Frisch 1992: 263) Stiller selbst jedenfalls
glaubt, in der Kunst versagt zu haben, und zerschlaegt ja auch, heimgekehrt,
bei einem Lokaltermin alle seine Werke. Allerdings darf man in dieser Handlung
nicht nur eine Auseinandersetzung mit seiner Kunst sehen, er versucht vielmehr
ein letztes Mal seine Vergangenheit zu zerschlagen, um von ihr frei zu werden.
"Julika scheint erwartet zu haben, mein Gestaendnis liege
bereits vor, […]." (Frisch 1992: 366)
"Noch immer mit der warmen Ruhe der Zuversicht versuche ich
Julika zu erklaeren, warum sie, so sie mich wirklich liebt, kein Gestaendnis
von mir braucht, dass ich ihr verschollener Gatte sei." (Frisch 1992: 367)
"[…], nach einigem Warten, […], erhebe ich mich, spuere
ploetzlich sehr schwere Beine, staube meinen Mantel ab, um Zeit fuer irgendeine
gluecklichere Wendung zu lassen, gehe endlich zur Tuere, […], die geschlossen
ist. Geschlossen." (Frisch 1992: 368)
""Da!"-lache ich vor Wut, die mich im Grunde doch
nicht verlassen hat, und reisse so ein Sacktuch ab, ratsch, und wie erwartet:
lauter Staub, von keinem Verteitiger zu halten, ein Gebroesel von trockenem
Lehm, und das naechste ebenso, Mumien, nichts als Mumien, das ist aber auch
alles, was von ihrem verschollenen Stiller sich haelt, der Rest ist Erde, wie
der Pfarrer
sagt, ein paar graubraune Klumpen auf dem Boden, vor allem aber eine Wolke von
braunem Staub, wenn ich die Sacktuecher schuettle." (Frisch 1992: 370)
War das Gefuehl, in dreifacher Hinsicht versagt zu haben, der
Grund fuer Stillers Flucht nach Amerika, so lohnt es sich zu fragen, ob es ihm
dort gelungen ist, sich ein neues Leben und eine neue Identitaet mit sich
selbst aufzubauen. Dem naiven Waerter Knobel gegenueber, der seine Erzaehlungen
staunend und glaeubig anhoert, zeichnet er ein Gegenbild: einen erfolgreichen
Mann, der sich ohne Hemmungen nimmt, was er haben moechte, und der Glueck bei
den Frauen hat. So ermordet er den Haaroel-Gangster Schmitz mit dem Dolch, weil
"dem in einem ordentlichen Rechtsstaat nicht beizukommen ist" (Frisch
1992: 25); rettet eine Mulattin aus dem brennenden Saegewerk, erschiesst ihren
Mann Joe: "Liebst du mich oder liebst du ihn?[…] Und Schuss. Und kein
Wort mehr von Joe" (Frisch 1992: 52).
Die Wirklichkeit seines Amerika-Aufenthaltes hat offenbar anders
ausgesehen. Wenn man auch nur wenig ueber Stillers Leben dort erfaehrt, so wird
doch deutlich, dass er seine Vergangenheit, insbesondere seine Schuldgefuehle
gegenueber seiner Frau, auch hier nicht abschuetteln kann. Sinnbild dieser
Bindung an die Vergangenheit ist die Geschichte von der Katze, die leitmotivisch
das Tagebuch durchzieht. Wenn wir die Gestalt von "Little
Grey" in die Analyse miteinbeziehen, koennen wir feststellen, dass White
in diesem Bild symbolisch fuer Stiller steht. Die Beziehung von White zu seiner
Katze zeigt Interpetationsmoeglichkeiten bezueglich derselben zu den
Beziehungen von Stiller und Julika. Es war in Oakland/ California, und er
durfte im Hause wohnen, wenn er dafuer die Katze fuetterte. Wenn sie ihn
stoerte, warf er sie hinaus. Doch sie fand wieder ins Haus: "Es wurde
ein Kampf um Ausdauer… weil sie um meine Huette jaulte und mich der ganzen
Nachberschaft verschrie… Ihr Blick drohte mit sterben…"(Frisch 1992:
62)
Es ist genauso wie bei Julika, durch deren Krankheit er sich an
sie gefesselt fuehlt. Auch das Gefuehl der eigenen Minderwertigkeit gegenueber
Julika uebertraegt er auf die Katze:"Sie lebte… wenn auch mit der Miene
einer Siegerin…" (Frisch 1992: 339)
Die Tatsache, dass Stiller die Katze einmal in dem Eisschrank
eingesperrt hat, koennte Julika's Frigiditaet symbolisieren, ueber die sich
Stiller im Nachwort bei Rolf beklagt.
Er wird die Katze, die er einmal als "Vorbote(n)"
bezeichnet (61) und die er innerlich mit seiner Frau in Beziehung setzt (Frisch
1992: 339), ebenso wenig los wie seine Vergangenheit.
Den letzten verzweifelten Schritt, damit zu brechen, stellt der
Selbstmordversuch dar, den Stiller zwei Jahre vor seiner Rueckkehr in die
Schweiz unternimmt. Es ist der Versuch, "ein Leben, das nie eines
gewesen war" (Frisch 1992: 381), von sich zu werfen. Der Schmerz und
der Schrecken, die hinterher einsetzen, zeigen ihm, dass er lebt; er nennt
dieses Erlebnis seinen Engel. Nun will er so leben, "dass ein
wirklicher Tod zustandekommt" (Frisch 1992: 381), das heisst, dass er
mit sich selbst identisch wird. Stiller kann ueber dieses Erlebnis nur in
Andeutungen berichten, es "ist nicht verbalisierbar, dabei ist gerade
darin seine tiefste Erkenntnis ueber sich selbst begruendet" (Tildy
1967: 23). Das Gefuehl, von diesem Zeitpunkt an ein neues Leben begonnen zu
haben, "die bestimmte Empfindung, jetzt erst geboren worden zu
sein" (Frisch 1992: 381), ist der tiefste und meiner Meinung nach der
eigentliche Grund, weswegen der Heimkehrer sich weigert seinen frueheren Namen
wieder anzunehmen. Denn damit geriet er unweigerlich wieder in sein frueheres
Leben hinein, ubernaehme eine Rolle, in die er nicht mehr passt. Niemand ist
naemlich bereit in ihm einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen, jeder sucht
in ihm nur die Zuege des Anatol Stiller, die er von frueher her kennt. Darum heisst
es schon auf S. 49: "Ich bin nicht ihr Stiller [...] Wozu mein
Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine
Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht,
nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle". (Frisch 1992: 49)
" Es gibt keine
Flucht" -
dieser Satz taucht immer wieder auf und diese Einsicht ist eine der Grundlagen
des Romans ueberhaupt, denn weil Stiller erfahren hat, dass Flucht vor sich
selbst nicht nuetzt, um mit sich selbst fertig zu werden, kehrt er in die
Schweiz zurueck. Aber mit der Rueckkehr in die Schweiz ist die Flucht vor sich
selbst noch nicht aufgehoben, denn der Gefangene weigert sich die Identitaet
mit dem Verschollenen zu gestehen.
Max Frisch hat in seinem
Roman eine innere, psychische Situation, naemlich die Flucht vor sich selbst
als eine aeusserliche Situation dargestellt. Der Roman ist eine Darstellung
eines Ich-Zerfalls und zugleich der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung
durch Selbstsuche. Gleich mit dem Beginn des Romans faengt diese Selbstsuche an
und in dieser Ausseinandersetzung mit sich selbst liegt die psychoanalytische
Faerbung des Romans.
"Was Frisch hier
darstellt, ist tatsaechlich eine Art Selbstanalyse als Reaktion auf das
Scheitern der Flucht vor sich selbst, und diese Selbstanalyse hat sehr viel
Aehnlichkeit mit der psychoanalytische Therapie" (Wesstein 1967: 256)
3.
Der
amerikanische und der schweizerische Text im Roman. Versuch einer
vergleichenden Analyse
Das Zusammenspiel der Realitaeten
kann aus einer anderen Sicht untersucht werden, die aber von dem Begriff der
Mehrschichtigkeit in "Stiller" nicht wegzudenken ist. Das ist die
Opposition 'die Schweiz- Amerika', wo Amerika aus Stillers Perspektive fuer die
Welt der Flucht steht und die Schweiz der Ort seines Versagens ist.
Bei der kritischen
Darstellung der Schweiz muss zwischen der Stillers und der Whites unterschieden
werden, das heisst zwischen den kritischen Aeusserungen Stillers vor seiner
Flucht nach Amerika, die von anderen Personen berichtet werden, und denen, die
der Ich- Erzaehler in der Gegenwart selbst ausspricht.
Im Rahmen der
vorliegenden Analyse ist gerade Whites Position gegenueber der Schweiz von
Bedeutung, insbesondere in ihrer Opposition zu Amerika, weil sie zu einem
Instrument des Zusammenspieles zwischen Fakt und Fiktion wird.
Die Gesellschaftskritik
Mr. Whites ist durch die Form bestimmt. Der Ich- Erzaehler tritt als Amerikaner
auf, er schildert die Welt, die er sieht, quasi von aussen, als Fremder, wenn
er schreibt: " Zuerich koennte ein reizendes Staedchen sein" (Frisch
1992: 77) (und darin liegt schon eine gewisse Kritik), wenn er Zuericher
Grossmuenster "eine Art kleine Kathedrale" nennt, so glaubt
man zunaechst, White sei wirklich ein Fremder. Allmaehlich aber gewinnt seine
Kritik an der Schweiz eine Schaerfe, wie sie ein Fremder wohl nicht
aufbraechte. Der Verteitiger nimmt es auch als Beweis dafuer, dass sein Mandant
Schweizer und somit der gesuchte Stiller ist.
" Sie wollen mir
nur vormachen, dass Sie kein Schweizer sind und somit nicht Stiller", sagt er, " aber Sie
werden mir nichts vormachen; ihr Hass gegen die Schweiz beweisst mir noch lange
nicht, dass Sie kein Schweizer sind. Im Gegenteil!" ruft er, da ich lache,
" gerade damit verraten Sie sich." (Frisch 1992: 196)
Der Tagebuchschreiber
betont jedoch, dass seine Kritik eigentlich nicht der Schweiz gelte: "
Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die Verlogenheit" (Frisch 1992:
196). Diese Erscheinung ist keinesfalls auf die Schweiz beschraenkt, entzuendet
aber stets die Kritik an den Schweizer Verhaeltnissen. Sie scheinen alles
zusammenzufassen, was Stiller an der buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt
kritiesiert. Das haengt wohl mit der Funktion zusammen, die die Schweiz fuer
ihn und seine Identitaetsfindung hat. So meint Jurgensen: " Stillers
Gesellschaftskritik ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Selbstanalyse"
(Juergensen 1972: 80)
3.1 Die raeumliche Perspektive
Der Schweiz, deren
raeumliche und geistige Enge Stiller ein Aergernis ist, wird im Roman ein
Gegenbild gegenuebergestellt: Amerika, Sinnbild der Weite, des urspruenglichen,
nicht genormten Lebens.
In folgenden Zitaten
kommt diese Gegenueberstellung durch die Wortwahl zum Ausdruck, wobei fuer die
Schweiz Epitheta wie "klein, angemessen, genuegend" und fuer
Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich, bluehend"
gewaehlt werden:
"Meine Zelle- ich
habe sie eben mit meinem Schuh gemessen, der nicht ganz dreissig
Zentimeter hat - ist klein wie alles in diesem Land, sauber, so dass man
kaum atmen kann vor Hygiene, und beklommend gerade dadurch, dass alles recht,
angemessen und genuegend ist." (Frisch 1992: 15-16)
"Ich sitze in
meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die Wueste. Beispielsweise die
Wueste von Chihuahua. Ich sehe ihre groesse Oede von bluehender
Farben, wo sonst nichts anderes mehr blueht, Farben des gluehenden
Mittags, Farben der Daemmerung, Farben der unsaeglichen Nacht." (Frisch 1992: 26)
Stiller versucht dem
engen und konventionellen Leben in Europa zu entfliehen und auf dem neuen Kontinent
ein freieres Leben zu beginnen. Allerdings soll diese Deutung eingeschraenkt
werden: Sie gilt im "Stiller" vor allem fuer Mexiko. Was Stiller
fasziniert, ist nicht nur die Weite, die metaphorisch fuer seelische Freiheit
steht, sondern auch die Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen in Mexiko
dem Leben und Tod gegenueberstehen. Der Erinnerung an den Totentag in Mexiko
wird kurz darauf der Besuch auf dem Friedhof in Zuerich am Grabe der Mutter
gegenuebergestellt: hier die wortlose Hilfslosichkeit zweier Protestanten
gegenueber dem Phaenomen des Todes, dort der selbstverstaendliche Einklang von
Leben und Tod.
" Ich muss […] an
den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah, an die indianischen Muetter,
wie sie auf den Graebern kauern die ganze Nacht, alle in ihren festlichen
Trachten, sorgsam gekaemmt wie fuer die Hochzeit, und scheinbar geschieht
ueberhaupt nichts, der Friedhof ist eine Terrasse ueber dem schwarzen See[..], ein
Friedhof ohne einen einzigen Grabstein oder sonst ein Zeichen […], dazu die
Teller mit allerlei Speisen, die mit einem sauberen Tuechlein bedeckt ist,
vor allem aber das sonderbare Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt
worden ist, ein Gestell aus Bambus, daran das Gebaeck und Blumen, die
Fruechte, das bunte Zuckerzeug." (Frisch 1992: 319)
"Das Grab der
Mutter: - wie Graeber hierzulande eben sind, mit gestelltem Granit
saeuberlich eingefasst, alle etwas zu kurz, so, dass man den Schrecken hat,
den Toten auf den Fuessen zu stehen, dazwischen Kieswege, immergruen am
Rand, in der Mitte des Grabes eine toenerne Vase, ein paar welke Astern
drin, hintern dem Stein eine rosige Blechbueckse, um die Blumen zu
begiessen."
(Frisch 1992: 324)
Sehr viel kritischer
aeussert sich der Tagebuchschreiber ueber New York. Waehrend der Staatsanwalt
von der Rainbow- Bar schwaermt, erzaehlt er ihm von der Bowery, einem "Viertel,
wo auch die Polizei nicht mehr hingeht, Gefilde der Verlorenen"
(Frisch 1992: 176), wo er in einem betrunkenen Greis seinen Stiefvater zu
erkennen glaubt. Hier zeigt sich, dass es Stiller nicht um die
Gesellschaftskritik geht, sondern dass er ueberall seine persoehnliche
Problematik sieht. Dies geht auch vor allem aus der Schilderung seiner ersten
Eindruecke nach der Landung hervor, wo es heisst:
" Ich sah die
Praerie, die Schlaechtereien von Chikago, die Mormonen, die Indianer, die
groesste Kupfergrube der Welt […]." Und doch verfolgt ihn der Gedanke an seine "
grazile Balletteuse". (Frisch 1992: 338)
Diese Stelle im Roman
zeugt davon, dass der Ankoemmling, der von seinem frueheren Leben flieht, seine
Identitaet leugnet, trotzdem seine Vergangenheit mit seiner Gegenwart
vergleicht, mit anderen Worten sie nicht loswird.
3.2 Die zeitliche Perspektive
Wie gesagt, kann der
Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht abschuetteln. Diese Tatsache
widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo Vergangenheit und Gegenwart
ineinander verflochten bleiben. Dadurch entstehen Brechungen, sodass sich
Ereignisse gegeseitig spiegeln und erhellen.
Keine chronologisch
erzaehlte Handlung ist im Roman vorhanden, sondern ein kompliziertes Geflecht
mehrerer Zeitebenen. Die Vergangenheit wird in Form von Rueckerinnerungen und
Berichten in die Gegenwart hereingeholt und mit ihr konfrontiert.
"Ich soll mein
Leben erzaehlen, und wenn ich versuche, mich verstaendlich zu machen, sagen
sie: Hirngespinste! […]. Mein Verteidiger hoert zu, solange ich von meinem Haus
in Oakland rede, von Negern und anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren
Geschichte komme […] putzt mein Vertedtiger sich die Fingernaegel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen
mit irgendeiner Lappalie: "Sie hatten ein Haus in Oakland?" […] Es
war vier Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteitiger notiert, das ist
es, was er wissen will!) und eigentlich, ganz genau zu sein, war es eher
eine Schindelhuette." (Frisch 1992: 60-61)
In diesem Zusammenhang
kann man behaupten, dass die Zeit zum Objekt und zugleich zum Instrument im
Zusammenspiel der Realitaeten wird.
Wenn wir
die Zeitstruktur des Romans unter die Luppe nehmen, ist auch in erster Linie
zwischen dem schweizerischen und amerikanischen/ mexikanischen Text zu
unterscheiden. Fuer das, was aus Amerika berichtet wird, ist keine genaue
Datierung festzulegen, mit Ausnahme des Selbstmordversuchs, den Stiller vor
seiner Rueckkehr unternimmt. White hat also keine Vergangenheit, die sich erzaehlen
liesse, er gibt nur einzelne Impressionen wieder, einzelne, nicht chronologisch
aufeinander folgende Erinnerungen, die sich meist auf den Aufenthalt in Mexiko
beziehen. Diese Mexiko-Erinnerungen sind haeufig im Praesens geschrieben, ein
Zeichen fur eine Art Zeitlosigkeit des dortigen Lebens.
Im Unterschied dazu ist fuer den 'schweizerischen Text' eine
andere Zeitform, das Praeteritum, charakteristisch.
"Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis
inbegriffen und alles, versteht sich, bei Kerzenlicht." (Frisch 1992: 298)
"Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genauso
ist es, malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es
Augenblicke, wo man sich ploetzlich fuerchtet. Es stinkt
nach einem toten Hund. Kinder sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat,
auf dem Faeulnis alter Fruechte. Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie
noch heute: Bohnen und Erbsen, Nuesse, Fruechte, die ich zum erstenmal sehe.
" (Frisch 1992; 29)
Es sind die
Impressionen eines rollenlosen, entindividualisierten Ichs, (Lusser-
Mertelsmann 1976: 62) das keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt. Diese
gewissermassen zeitlose Existenzweise wird auch vom Tagebuch-Ich uebernommen,
das entgegen dem ueblichen Gebrauch seine Eintragungen ohne Datum vornimmt. Wir
koennen zwar den Fruehherbst 1952 als Datum der Rueckkehr festlegen, erfahren
aber nicht genau, wie lange die Untersuchungshaft dauert.
Die Gegenwartsebene- die Monate der Untersuchungshaft, der
schweizerische Text - wird nun der durch Rueckwendung hereingeholten
Vergangenheitsebene gegenuebergestellt. Das 2. Heft holt dabei zeitlich am
weitesten aus, es beginnt mit dem Kennenlernen Stillers und Julikas kurz nach
seiner Ruckkehr aus Spanien und erzaehlt von da an die Geschichte ihrer Ehe,
jedoch nicht einfach chronologisch, sondern nach einer kurzen Schilderung des
Anfangs und der Probleme dieser Ehe springt der Bericht sofort auf das
Krisenjahr 1945 (das war vor etwa sieben Jahren - (Frisch 1992: 94).
Dieses wird nun von Julikas Standpunkt aus ausfuehrlich geschildert, dazwischen
aber heisst es: Hier waere etwas nachzutragen (Frisch 1992: 139), und
nun erst erfahren wir Stillers Spanienerlebnis aus dem Jahre 1935. Dies ist -
mit Ausnahme einiger Kindheitserlebnisse, die aber nicht in unmittelbarer
Beziehung zur Handlung stehen - der frueheste im Roman dargestellte Zeitpunkt.
Die Gegenwart macht sich also immer wieder bemerkbar, auch in den
Rueckwendungen.
Die beiden anderen der Vergangenheit gewidmeten Hefte - 4 und 6
-haben zwar eine einfachere Zeitstruktur, weil sie fast ausschliesslich vom
Jahr 1945 handeln. Aber auch hier ist die Erzaehlung immer wieder durch
Einschuebe in der Gegenwart unterbrochen, nicht nur durch die bereits
erwaehnten Bemerkungen und Kommentare des Tagebuchschreibers, sondern auch
durch Ereignisse und Reflexionen in der Gegenwart. So heisst es im 4. Heft
ploetzlich: "Sibylle (die Frau meines Staatsanwalts) hat gestern kurz
nach Mitternacht ein beinahe siebenpfundiges Maedchen geboren" (Frisch
1992: 218), oder im 6. Heft: "Manner sind komisch!" findet Sibylle
noch heute"" (Frisch 1992: 284), und nach dem Bericht, dass
Sibylle sich in Le Havre eingeschifft habe: "Mein Freund, der
Staatsanwalt, meldet, dass die Schlussverhandlung (mit Urteilsspruch) auf
Dienstag in acht Tagen angesetzt ist " (Frisch 1992: 308). Die
Gegenwart bleibt also im Bewusstsein des Lesers immer vorhanden. Karlheinz
Braun kommentiert diesen Sachverhalt folgendermassen: "Es ist deutlich,
dass in diesen Heften die Vergangenheit dominiert, doch Frisch macht von der
Moeglichkeit, die momentane Gegenwart aufleuchten zu lassen, so reichlich
Gebrauch, dass sich hier Vergangenheit und Gegenwart eigentuemlich vermischen"
(Braun 1959: 78)
Das 7. Heft nimmt sowohl in der Erzaehlhaltung als auch in der
zeitlichen Struktur eine Sonderstellung ein. Es enthaelt zunaechst, ebenso wie
die anderen Hefte mit ungerader Numerierung, Erlebnisse im Gefaengnis, also in
der Gegenwartsebene: Besuch beim Zahnarzt, Gespraech mit dem Staatsanwalt, Gang
auf den Friedhof und Besuch von Freunden, gemischt mit Reflexionen und
Erinnerungen an Mexiko, die uebrigens wieder im zeitlosen Praesens geschrieben
sind. Danach folgt die Rueckwendung auf Stillers Vergangenheit in der Ich-Form,
beginnend mit den Worten: "Es ist ja nicht wahr [...]" (Frisch
1992: 334). Schliesslich wird ein ganzer Tag im Gefaengnis protokolliert,
eingeleitet durch die Substantive mit zeitlicher Bedeutung: 1. Der Vormittag,
2. Das Mittagessen, 3. Der Nachmittag. Diese Protokolle werden immer
ausfuehrlicher, der Bericht vom Nachmittag nimmt 23 Seiten ein (355-378). Hier
naehert sich die Erzaehlzeit der erzaehlten Zeit, so wie sich die
White-Handlung der Stiller-Handlung naehert und schliesslich mit ihr
verschmilzt. Das Protokoll war bisher die Form, in der die Vergangenheit
Stillers dem Leser vermittelt wurde. Dass sie hier auf die Gegenwartsebene, den
Aufenthalt im Gefangnis, angewandt wird, ist ein Zeichen dafuer, dass der
Tagebuchschreiber White Stillers Vergangenheit als die seinige uebernimmt. Das
Gefuehl ein neuer, anderer Mensch zu sein, das ihn auch jetzt nicht verlaesst,
wird erst jetzt, unmittelbar vor der Urteilsverkuendung, durch den Bericht von
seinem Selbstmordversuch und die daraus resultierende Empfindung einer
Neugeburt begruendet. "Ich hatte die bestimmte Empfindung erst jetzt
geboren worden zu sein, und fuehlte mich mit einer Unbedingtheit, die auch das
Laecherliche nicht zu fuerchten hat, bereit, niemand anders zu sein als der
Mensch, als der ich eben geboren worden bin, und kein anderes Leben zu suchen
als dieses, das ich nicht von mir werfen kann" (Frisch 1992: 381).
Dies ist die einzige Rueckwendung auf den Amerika-Aufenthalt, die
zeitlich datiert wird: "Vor etwa zwei Jahren versuchte ich, mir
das Leben zu nehmen "(Frisch 1992: 378).
Im Zusammenhang mit dem Gesagten, koennen wir zum Schluss kommen,
dass die Zeit im Roman auch als Element des Spieles fungiert. Das kann durch
die Tatsache bewiesen werden, dass die Zeitlosigkeit im amerikanischen Text als
Zeichen der Irrealitaet des dortigen Lebens fungiert und fuer die Schweiz
dagegen detailierte Zeitangaben typisch sind.
3.3
Die
Stilebene
Nicht nur in raeumlich-zeitlicher Hinsicht lassen sich die Schweiz
und Amerika gegenueberstellen. Diese zwei Welten, zwei verschiedene
Realitaeten, werden auch auf der Stilebene miteinander konfrontiert. Das gilt
in erster Linie Landschaftsbeschreibungen. Nachstehend werden drei
Landschaftsschilderungen aus der sprachlicher Sicht analysiert und verglichen.
Die erste ist die Beschreibung der Wueste in Mexiko. Hier arbeitet
der Erzaehler mit Anaphern: "Farben des gluehenden Mittags, Farben
der Daemmerung, Farben der unsaeglicher Nacht" (Frisch 1992:
26); mit Wortwiederholungen: "Sand und Sand und wieder Sand"
(Frisch 1992:26), vor allem aber mit zahlreichen Vergleichen. Bei diesen
Vergleichen faellt auf, dass sie haeufig das Gesagte wieder einschraenken: "wie
Orgelpfeifen oder siebenarmige Leuchter, aber haushoch, […] nicht
eigentlich gruen, eher braeunlich wie Bernstein." (edg.:
26) Manchmal wird auch der poetische wirkende Vergleich durch den prosaischeren
ersetzt: "[…] wie mattes Gold oder auch wie Knochenmehl"
(ebd.) dadurch wird der gehobene Stil immer wieder gebrochen. Ebenso
heisst es am Schluss der Beschreibung der Wueste: "Es erfuellte uns,
ich erinnere mich, ein feierlicher Uebermut; kurz darauf platzte der hintere
Pneu" (Frisch 1992: 27)
Das eben beschriebene Stilmittel wird bei der zweiten grossen
Beschreibung, der New Yorks, noch haeufiger angewandt. Hier werden die
Vergleiche immer wieder praezieser; so heisst es: "[…] rot, nicht rot
wie Blut, rot wie die Spiegellichter in einem Glas voll roten Weines." (Frisch
1992: 315); "oder […] gelb, aber nicht gelb wie Honig, duenner, gelb
wie Whisky, gruenlich- gelb wie Schwefel […] " (Frisch 1992: 316)
neben den zahlreichen Vergleichen gibt es hier auch Metaphern: Teichen voll
Weissglut; Schwaden von buntem Nebel; Sterne ueber einer Sintflut von Neon-
Limonade; Teppiche, die aber gluehen […] usw. (Frisch 1992: 314)
Die Widerspruechlichkeit dieser Riesenstadt, die der Erzaehler
eine "Orgie der Disharmonie" nennt (Frisch 1992: 315),
spiegelt sich auch in antithetischen Figuren, die zwiespaeltige Gefuehle des
Erzaehlers zum Ausdruck bringen. "Menschen oder Termiten; Sinfonie und
Limonade; sinnlich und leblos zugleich; geistig und albern und gewaltig" (Frisch
1992. 316).
Lyrischer im Ton ist die dritte groessere Landschaftsbeschreibung
dieses Textes, die eine Landschaft in der Nahe von Zurich beinhaltet, wo
Stiller mit dem Staatsanwalt zu Mittag isst und wo er vor vielen Jahren mit
Julika war.
Da heisst es z. B.: "[...] die Zeit streicht wie eine
unsichtbare Gebaerde ueber die Range" (Frisch 1992: 351) oder "[...]
eine blaeuliche Geraeumigkeit fuellt die leeren Wipfel der Baeume, und wieder
lodert das Welken an den Hausmauern empor, klettert das letzte Laub in
gluehender Brunst der Vergaengnis" (Frisch 1992: 352). Hier dominiert
nicht die Beschreibung, sondern die durch die Landschaft ausgeloeste
Erinnerung.
"Es muss an mir liegen… Nocheinmal ist alles da, die Wespen
in der Flasche, die Schatten im Kies, die goldene Stille der Vergaengnis, alles
wie verzaubert […]" (Frisch 1992: 349).
In der letzten
Beschreibung dominiert nicht Stiller, sondern seine Erinnerungen an Julika. In
den ersten zwei Beschreibungen ist seine erwuenschte Realitaet vorhanden, er
geniesst dabei jede Einzelheit, weil diese Schilderungen sein Inneres
widerspiegeln und mit ihm identisch sind.
Es kann
festgestellt werden, dass nicht nur in Opposition 'die Schweiz-Amerika'
sprachliche Mittel zur Entstehung und zum Zusammenspiel der Realitaeten
beitragen. Es gibt konkrete Griffe, die der Autor einsetzt, um die
Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit emporzuheben. Joachim
Kaiser z. B. hat auf die Bedeutung der Klammer aufmerksam gemacht, die typisch
fur Frischs Stil sei. (vgl.
Kaiser 1971: 50) Auch im "Stiller" finden sich zahlreiche Klammern (linguistisch gesehen
sind das Parenthesen), so heisst es zum Beispiel ueber Spanienerlebnisse, wo
sich White Gedanken ueber Stiller macht: "Seine Feuerprobe bestand er
(vielmehr: er bestand sie eben nicht!) vor Toledo, wo die Faschisten sich im
Alcazar veschanzt hatten" (Frisch 1992: 139) Oder: "Natuerlich
ritt ich schon im Morgengrauen (in einem grossen Bogen, damit man mir nicht auf
die Spur kam) wieder zu meiner Grotte" (Frisch 1992: 158)
"Jim traute meinen Schaetzungen nicht, dabei hat die spaetere
Erforschung jener Kavernen (die Touristen erreichen sie heutzutage von Karlbad
her, New Mexico, mit dem Bus) ganz andere Masse ergeben." (Frisch 1992: 163)
Die Klammer ergaenzt und praezisiert, hat einen Realitaetsbezug,
aber sie ironisiert und distanziert auch, weisst auf "fremde
Realitaeten" hin, nicht nur in den Protokollen des 2., 4. und 6. Heftes,
wenn das eingeschobene (so sagt er selbst), (so sagt Sibylle) usw. das
Erzaehlte immer wieder vom Erzaehler abrueckt, sondern auch im eigentlichen
Tagebuch: "So (ungefaehr) werde ich zu Frau Julika Stiller-Tschudy
sprechen [... ]" (Frisch 1992: 343).
Es lohnt sich auch auf ein weiteres Aspekt, naemlich auf den
Gebrauch von Helvetismen aufmerksam zu werden. Sie treten im Text als
Bestandteile einer der vorhandenen Realitaeten auf.
Walter Schenkers ausfuehrliche Untersuchung behandelt diesen
Teilaspekt, naemlich die Rolle, die die schweizerische Mundart in
"Stiller" spielt. Wenn naemlich Stiller in der Rolle Whites seine
Schweizer Herkunft verleugnet, so muss er darauf achten, keine Helvetismen in
seine Aufzeichnungen einfliessen zu lassen. Dies gilt natuerlich vor allem fuer
die Hefte 1, 3 und 5, waehrend die Hefte mit gerader Numerierung ja das
wiedergeben, was ihm andere erzaehlt haben sollen; hier besteht also kein Grund
schweizerische Redewendungen aengstlich zu vermeiden. So gebraucht er z. B. im
2. Heft den Ausdruck Coiffeur, den Max Frisch nach Schenkers Auskunft als typisch schweizerisch
empfindet. (Schenker 1969: 55) Ebenso heisst es im 2. Heft: "Kurz
darauf erschien die Schwester, um sich zu erkundigen, ob Frau Julika wirklich
nicht zu kalt hatte" (Frisch 1992: 144). Der Ausdruck ich habe kalt
statt hochdeutsch mir ist kalt ist eindeutig schweizerisch. Eine
aehnlich schweizerische Wendung ist: "Die Sonne machte sehr warm" (Frisch
1992: 415), ein Ausdruck, den der Staatsanwalt in seinem Nachwort benutzt.
Sprache und Stil im Allgemeinen sind vielmehr von der Problematik
und Struktur des Romans abhaengig, wobei sich die eigentuemliche Situation
ergibt, dass der Titelheld, der sich ja schriftlich und muendlich gut zu
artikulieren versteht, gerade dann verstummt, wenn es um seine persoenlichste,
existenzielle Erfahrung geht. Das kann zugleich als Signal der Umschaltung der
Realitaeten gelten. Je weiter sich Stiller von seinen existenziellen
Erfahrungen entfernt, desto leichter findet er Worte. So zum Beispiel, wenn er
Knobel beredt und farbig seine Abenteuer erzaehlt.
"Das ist es: ich habe keine Sprache fuer die
Wirklichkeit", heisst es unter PS bereits am Ende des 1. Heftes. Und
nach Reflexionen ueber die Frage, wer er in Wirklichkeit ist, schliesst der
Tagebuchschreiber diesen Abschnitt nochmals mit dem Satz: "Ich habe
keine Sprache fuer meine Wirklichkeit! (Frisch 1992: 84) "Jedes
Wort ist falsch und wahr, das ist das Wesen des Worts [...]" (Frisch
1992: 175), steht im 3. Heft, und schliesslich reflektiert Stiller im 7. Heft
im Zusammenhang mit dem Sinn des Tagebuchs:
"Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht
Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem Unaussprechlichen.
Je genauer man sich auszusprechen vermochte, um so reiner erschiene das
Unaussprechliche, das heisst die Wirklichkeit, die den Schreiber bedraengt und
bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden. " (Frisch 1992: 330).
"Wer schweigt, ist nicht stumm. (Juergensen 1972: 99) Wer
schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist."
Das
Verstummen, das in letzter Konsequenz zum Wechsel der Erzaehlerperspektive
fuehrt, setzt ein, nachdem er seine Vergangenheit als die seine anerkannt und,
wenn auch nicht ohne Zwang, seine Identitaet als Stiller akzeptiert hat. (vgl.
Schenker 1969: 116) Vielleicht deutet auch der Name Stiller auf dieses
Verstummen.
Sprache und
Stil werden also fuer den Tagebuchschreiber von dem Verhaeltnis bestimmt, in
dem sich das Dargestellte zu seiner persoenlichen Problematik befindet, Er
weicht dort, wo die Sprache die unmittelbare Erfahrung nicht ausdrueckt, ins
Parabolische aus, sucht sich in Geschichten und Traeumen, in Bildern und
Vergleichen auszudruecken.
Schlussfolgerung
Im Rahmen der
vorliegenden Diplomarbeit haben wir uns zum Ziel gesetzt das Phaenomen des
Zusammenspieles der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu erlaeutern.
Im Zusammenhang mit dem
gesetzten Ziel haben wir uns mit folgenden Aufgaben auseinandergesetzt und sind
zu folgenden Schluessen gekommen:
ä
Der Aufbau des
Romans, die Form und Funktion des Tagebuches, deren sich der Autor bedient,
beeinflussen die Offenheit des Romans. Die Autorenposition von Max Frisch, die
im Roman zum Ausdruck kommt, bawaegt den Leser zum Nachdenken und macht ihn zu
einem 'Mitspieler'. Diese unvollendete literarische Form bewirkt, dass der
Autor dem Leser sein eigenes Bildnis nicht aufzwingt. Die knappe Information,
die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt Leerstellen, die er mit
eigenen Assoziationen, Theorien und Vermutungen fuellt. Die Perspektivierung
der dargestellten Ereignisse fuehrt unter anderem zu verschiedenen
Interpretationsmoeglichkeiten.
ä
Erzaehlsituation
und Erzaehlhaltung, insbesondere ihre zahlreichen Aenderungen im Rahmen des
Erzaehlens, treten als Signale der Umschaltung der Realitaeten auf.
ä
Das Fehlen der
einheitlichen Textwirklichkeit, naemlich das Phaenomen "Text im Text"
und damit verbundene Erscheinung "virtuelle Textwirklichkeit" sind
wesentliche Merkmale des Zusammenspieles zwischen Fakt und Fiktion. Die
Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit kommt in "Stiller" in solchen
Textfragmenten wie erzaehlte Geschichten, parabolische Geschichten, Traeume zum
Ausdruck. Diese Behauptung wird in der vorliegenden Arbeit unter anderem durch
die psychoanalytischen Theorien der Traumdeutung und Belletristik von Sigmund
Freud bestaetigt. Diesen Theorien zufolge verarbeitet der Mensch ihm widerliche
Wirklichkeit und ersetzt sie durch eine neue, erwuenschte, indem er traeumt und
Geschichten erfindet. Mit anderen Worten, er vertauscht Realitaeten und spielt
mit ihnen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen waehlt, um sich auszudruecken,
indem er Geschichten erzaehlt, mit anderen Worten moegliche Beispiele gibt,
fuer das, was ihm wiederfahren ist, versucht er sich selbst zu erkennen.
ä Die Gegenueberstellung 'die
Schweiz- Amerika', die sich im Rahmen des Forschungsthemas von der zeitlich-
raeumlichen Perspektive aus vollzieht, ist zusammen mit der Untersuchung der
Sprache und des Stils wesentlicher Bestandteil der analysierten Erscheinung des
Zusammenspiels der Textrealitaeten. Beim Vergleich des 'schweizerischen' und
'amerikanischen' Textes offenbaren sich inhaltliche und sprachliche Instrumente
und Signale, die die Autorenabsicht veranschaulichen.
-
Die raeumliche
und geistige Enge der Schweiz wird mit dem Sinnbild der Weite, mit Amerika
konfrontiert. Das kommt durch die Wortwahl zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz
z. B. Epitheta wie "klein, angemessen, genuegend" und fuer
Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich, bluehend"
gewaehlt werden.
-
Diese Tatsache
widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo Vergangenheit und Gegenwart
ineinander verflochten bleiben. Dadurch entstehen Brechungen, so dass sich
Ereignisse gegeseitig spiegeln und erhellen. Die amerikanische, bzw.
mexikanische Ereignisse werden meistens im Praesens beschrieben, was von
gewisser Zeitlosigkeit, mit anderen Worten Fiktion, des dortigen Lebens zeugt.
Im 'schweizerischen' Text bleibt die Vergangenheit und Gegenwart miteinander
vermischt, was die Tatsache zuspitzt, dass der Tagebuchschreiber seine
Vergangenheit nicht loswird.
-
Sprache
und Stil werden fuer den Tagebuchschreiber von dem Verhaeltnis bestimmt, in dem
sich das Dargestellte zu seiner persoenlichen Problematik befindet, er weicht
dort, wo die Sprache die unmittelbare Erfahrung nicht ausdrueckt, ins
Parabolische aus, sucht sich in Geschichten und Traeumen, in Bildern und
Vergleichen auszudruecken.
Die Untersuchung,
die im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit durchgefuehrt war, ist einer
der Wege komplizierte Welt des Romans zu beschreiben. Das Phaenomen des
Zusammenspieles der Realitaeten hat ausserdem mit der Beschreibung der
obenerwaehnten Textfragmente noch nicht sein Bewenden, denn der ganze Text
basiert auf Wechselbeziehungen von verschiedenen Perspektieven. Das kommt fast
in jedem Satzt zum Ausdruck: in Repliken, Beschreibungen von Gestalten, in der
Wahl von Epitheta.
Das von uns
gewaehlte Herangehen an die Analyse des Zusammenspiels der Textrealitaeten im
Rahmen eines fiktionalen Textes ist nur eines der Verfahren die Autorenabsicht
von Max Frisch zu verstehen.
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